Oh wehe, der Algorithmus beginnt zu dichten!
Eine künstliche Intelligenz schreibt erstmals längere sinnvolle Texte. Ist der Schulaufsatz damit am Ende? Für Literatur fehlt jedenfalls das Wesentliche.
Ach wäre ich doch Chat GPT, diese künstliche Intelligenz, von der alle reden! Dann hätte ich diesen Artikel in einer Minute geschrieben. Keine Zweifel würden mich plagen, ob meine Einschätzung richtig ist. Keine Sorge, ob ich mehr erkannt habe, als sich aus der Masse an kollektivem Geschwätz darüber als typisch herausfiltern lässt. Keine Angst hätte ich, dass solche Textgeneratoren in absehbarer Zeit uns Journalisten ersetzten. Und keine Scham, wenn Leser mir vorwerfen, ich hätte das Problem falsch analysiert. Die KI reagiert auf Kritik mit digitalem Achselzucken, in etwa so: „Sie haben recht, das war falsch. Ich bin nur eine Software.“Aber ich fühle mich verantwortlich, bin ein Mensch, verflucht.
Seit einem Monat ist Chat GPT in aller Munde. Triumphierend halten Jugendliche ihren Eltern den Smartphone-Bildschirm vor die Nase, auf dem eine Geisterhand einen Satz nach dem anderen tippt. Schüler hegen die gar nicht stille Hoffnung, dass damit die verhassten Aufsätze und schriftlichen Prüfungen bald passé sind. Denn dieses automatisierte Dialogsystem kann erstmals Fragen ausführlich beantworten, in kohärenten Texten, etwa fünf Absätze lang, semantisch und grammatikalisch fast fehlerfrei. Zudem reagiert es sinnvoll auf Feedback, merkt sich also, was bisher gesagt wurde. Und es kreiert auf humane Aufforderung hin fiktionale Texte: Kurzgeschichten, Reden, Dialoge oder Gedichte. Nach Wunsch auch „im Stil von . . .“– auf dass sich Shakespeare und Goethe im Grabe umdrehen.
Was kann das Programm, ästhetisch betrachtet? Eine „Ode an das Skifahren im Stile Hölderlins“spuckt es so aus: „O Ski, o Ski, du edler Freund, / Du bist das Tor zu unendlichen Höhen. / Du schenkst uns Glück, in jeder Sekunde, / Du bist die Quelle, die uns nie versiegt.“Na ja. Auf Englisch geht schon deutlich mehr, auch Endreime. Ein Loblied auf Wien, Strophe drei: „But it’s not just the sights that make Vienna great, / It’s the people, their culture, their love of the plate / From schnitzel to strudel, the food is divine, / A culinary delight that is truly fine.“Bei der Kurzgeschichte a` la Schnitzler stimmen Setting und Personal: die Garderobe eines Wiener Schauspielers, seine Geliebte aus feinem Haus, ihr eifersüchtiger Gatte. Dass hier das Liebespaar nicht einfach durchbrennen kann, sondern die Männer sich zu duellieren haben, mag der Algorithmus noch lernen, in einer der nächsten Versionen. Aber die „Elegie auf einen toten Freund im Stile von Shelley“dürfte wohl für immer eine langweilige Grabrede bleiben, schablonenhaft von der Stange fabuliert.
Warum? Je länger man die Software erprobt, desto mehr weicht die Faszination der Ermüdung, dem Verdruss, ja dem Ekel. Die Texte bleiben flach, banal, voll von Klischees und plagiierten Versatzstücken, fast schon unheimlich leblos. Wortspiele, Witz, unerwartete Metaphern? Fehlanzeige. Es liegt gar nicht so sehr an ästhetischen Mängeln: ein nicht eingehaltenes Versmaß, ein paar unpassende Wörter – das dürfte durch weiteres Anfüttern mit Texten und Schleifen des Selbstlernens bald zu beheben sein.
Was Tech-Enthusiasten nicht kapieren
Woran es wohl für immer mangeln wird, verrät viel über uns selbst: Es fehlen echte Emotionen und eigenständige Gedanken, bohrende Lebensfragen und existenzielle Abgründe. Aber auch sympathische Marotten, Humor und Charme, zu denen wir uns retten können. Also Anmut und Würde, mit Schiller gesprochen – eben das, was unser Menschsein ausmacht. Erst daraus entspringen kreative Ideen, überraschende Einfälle. Sie bringen wir in Form, feilen daran, bis der Text unser selbst gewähltes Wesen zum Leuchten bringt. Nicht für Noten, als Job, nein: als Selbstzweck. Und wenn es besonders gut gelingt, wenn es viele Mitmenschen bereichert, dann nennen wir es Literatur.
All das kapieren die Tech-Enthusiasten nicht, die nun den „Durchbruch“und eine „Zeitenwende“feiern. Keck erklären sie: Mit Chat GPT werde man künftig Storys viel
schneller und billiger „produzieren“. Schriftsteller sollten gefälligst dankbar sein für ein „Tool“, das ihren „kreativen Prozess bereichert“und Schreibblockaden überwinden hilft. Und jeder „User“könne sich bald „on demand“genau jene Geschichte liefern lassen, die er immer lesen wollte – als läge nicht ein Sinn von Literatur gerade darin, dass sie uns auf ganz neue Fährten lockt . . .
Was Chat GPT mit logorrhoischem Eifer auswirft, bewegt sich auf dem sprachlichen Niveau braver Schulaufsätze, mit denen uninspirierte Schüler über die Runden kommen. Für Lehrer, die solche formelhaften Texte benoten, sind echte von falschen kaum zu unterscheiden. Als Hausübung haben Aufsätze damit ausgedient. Damit sie als Schularbeiten überleben, müssen sich Lehrer künftig möglichst unvorhersehbare Themen ausdenken. Also gleich weg mit ihnen?
Davor warnt auch Chat GPT: „Aufsätze schreiben fördert das kritische Denken und die Analysefähigkeit von Schülern. Sie lernen, Informationen zu sammeln, diese zu bewerten und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Dies ist eine wichtige Fähigkeit, die für den beruflichen Erfolg von Nutzen sein kann.“Gar nicht so dumm, diese künstliche Intelligenz. Aber so schrecklich öde.