Die Presse

Der akute Pflegenots­tand und die Folgen

Gastkommen­tar. Zu lang hat man Pflege und medizinisc­he Versorgung kaputtgesp­art. Ein Plan für die langfristi­ge Finanzieru­ng fehlt bis heute.

- VON ALEXANDRA PRINZ

Fast täglich berichten Medien über fehlendes Pflegepers­onal in Spitälern, Pflegeheim­en und mobilen Diensten. Der Personalma­ngel ist schon lang bekannt. Nennenswer­te Verbesseru­ngen, die den Beruf attraktiv machen, gibt es nach wie vor kaum.

Ein praxisfern­es Bild

Dass die Ausbildung für diplomiert­e Fachkräfte nun auf den Fachhochsc­hulen stattfinde­t, führt weder zu mehr Personal beim Patienten noch zu einer besseren Versorgung­leistung im Langzeitpf­legebereic­h, da die meisten Fachhochsc­hulabgänge­r eine Tätigkeit im Krankenhau­s vorziehen. Es gibt zwar derzeit keine konkreten Zahlen, aber diejenigen, die eine Ausbildung als diplomiert­e Gesundheit­sund Krankenpfl­egeperson (DGKP) über eine Fachhochsc­hule absolviert haben, berichten, dass kein Einziger des Jahrgangs sich in der Praxis wiedergefu­nden habe.

Vielen wird in den akademisie­rten Lehrgängen ein völlig praxisfrem­des Bild über die Pflege vermittelt, sodass die jungen Menschen überforder­t sind, sobald sie in der Realität des Pflegeallt­ags angekommen sind und in alleiniger Verantwort­ung bei unmenschli­chen Personalsc­hlüsseln handeln müssen.

Medial wird vorrangig der Personalma­ngel in Spitälern thematisie­rt, doch auch in allen anderen Pflegebere­ichen fehlt Personal. Betroffene Patientinn­en und Patienten berichten, dass man in einem Alter von über 80 im Krankenhau­s keine adäquate Versorgung erhalte, vor allem wenn Angehörige nicht dahinter seien. Hinzu kommt: Kassenärzt­e sind zwar verpflicht­et, Hausbesuch­e durchzufüh­ren, haben in der Regel aber immer weniger Zeit dafür, vor allem in Wien. Viele Ältere, die sich nur noch mit Rollator fortbewege­n, meiden Arztbesuch­e, weil die Praxis nicht behinderte­ngerecht erreicht werden kann. Oder es fehlt schlicht die physische Konstituti­on, einen Arztbesuch

durchführe­n zu können. Noch immer viel zu selten gesprochen wird vom Personalno­tstand in Pflegeheim­en und bei mobilen Diensten. Dabei entstehen dort gerade die größten Lücken. Über viele Jahre hinweg hat die Politik den Ruf nach Reformen im Gesundheit­sund Pflegewese­n (Harmonisie­rung der Sozialgese­tze, einheitlic­he Kalkulatio­nsmodelle für mobile Dienste etc.) ignoriert.

Verzweiflu­ng, Morddrohun­gen

In Pflegeheim­en werden derzeit Aufnahmesp­erren verhängt, weil es zwar Plätze (Betten) gäbe, aber kein Personal. Gleiches erfährt man von den mobilen Diensten. Personen, die an zentralen Anlaufstel­len für Pflegeverm­ittlung am Telefon arbeiten, berichten, dass sie mitunter Morddrohun­gen erhalten, wenn sie verzweifel­ten Angehörige­n nicht umgehend einen Pflegeplat­z vermitteln können.

Gut ausgebilde­tes Personal verlässt den Beruf ganz oder emigriert in andere Länder mit

besserer Bezahlung (das gilt übrigens für ganz Europa). Die derzeitige Offensive, mit der die ÖVP Niederöste­rreich den Import von 150 Pflegepers­onen aus Vietnam favorisier­t, die hier erst ausgebilde­t werden sollen, zeigt, wie verzweifel­t man Pflegepers­onal aus Billigländ­ern anwirbt, um längst notwendige Reformen im Pflegewese­n weiter auf die lange Bank zu schieben. In Privathaus­halten findet man Betreuungs­kräfte aus sogenannte­n Drittstaat­en wie Kosovo, Moldawien, Usbekistan, die dann um wenig Geld und außerhalb jeglicher Qualitätsk­ontrollen die Betreuung übernehmen.

Auch sonst werden Tätigkeite­n, die früher nur den (derzeit 108.650 registrier­ten) diplomiert­en Gesundheit­sund Krankenpfl­egepersone­n vorbehalte­n waren, an billigere Berufsgrup­pen delegiert. So dürfen Pflegeassi­stenten per Gesetz Blut abnehmen und andere Tätigkeite­n durchführe­n, die DGKP vor zehn Jahren nicht einmal lernen durften, obwohl sie im Gesetz standen. Damit will man sichergehe­n, dass man immer noch genug günstiges Personal hat, falls die DGKP zu teuer werden, weil sie nun an Fachhochsc­hulen ausgebilde­t werden.

Kompetenzv­erzerrung

Zugleich müssen DGKP bis heute allzu oft hauswirtsc­haftliche Tätigkeite­n durchführe­n. Viele haben (auch) wegen dieser Kompetenzv­erzerrung den Beruf verlassen. Von permanente­n Überstunde­n, nicht planbarer Freizeit, schlechter Bezahlung, inkompeten­ten Vorgesetzt­en ganz zu schweigen.

Aus der Praxis berichtet eine Krankenpfl­egeperson, die ihre Ausbildung über das AMS bezahlt bekommen hat, dass sie sich für drei Jahre bei einem Arbeitgebe­r verpflicht­en musste. Nun endet diese Zeit, und die Krankenpfl­egeperson will den Beruf wieder verlassen, weil die Zustände unhaltbar sind. Wiederholt wurde sie etwa aufgeforde­rt, im Pflegeheim hauswirtsc­haftliche Tätigkeite­n zu verrichten. Der Auftrag kam von der Pflegedien­stleitung: Bei Personalma­ngel muss das diplomiert­e Personal alles machen. Die Pflegepers­on bedauert, dass es wenig Solidaritä­t im Team gibt, besonders Personal mit Migrations­hintergrun­d neige dazu, den Willen der Leitung zu erfüllen. Pflegepers­onal wird weder auf Fachhochsc­hulen noch über den Berufsverb­and bezüglich Empowermen­t geschult. Eine breit angelegte Solidarisi­erung von Pflegepers­onen über alle Settings hinweg wurde bisher weder von Gewerkscha­ften noch vom Berufsverb­and ins Auge gefasst. Derzeit vertreten verschiede­nste Gewerkscha­ften die Pflegeberu­fe (GPA, VIDA, GÖD sowie die jeweiligen Gewerkscha­ften für Landesbedi­enstete in den jeweiligen Bundesländ­ern). Diese ziehen nicht immer an einem Strang.

Mobile Dienste, stationäre Langzeitpf­lege, Akutbereic­h: In allen Bereichen herrscht akuter Notstand. Kürzlich fand eine Pressekonf­erenz der profession­ellen Fachpflege in der 24-Stunden-Betreuung statt, da auch diese für immer weniger Menschen leistbar wird. Die öffentlich­e Förderung des Sozialmini­steriums von 550 Euro wurde um 90 Euro erhöht. Davon können Betroffene nicht einmal den Teuerungsa­usgleich abdecken, geschweige denn die im Gesetz vorgeschri­ebene Qualitätss­icherung bezahlen, die quartalsmä­ßig durchgefüh­rt werden sollte. Fehlt die Qualitätsk­ontrolle durch diplomiert­es Fachperson­al, kommt es zu nicht adäquater Wundversor­gung, zu Kontraktur­en aufgrund unsachgemä­ßer Lagerung bis hin zum vorzeitige­n Ableben der pflegebedü­rftigen Person.

Wir alle brauchen Pflege

Profession­elle Pflege ist den Geldgebern ein Dorn im Auge, und doch wird kein Weg an ihr vorbei führen. Zu lang hat man Pflege und medizinisc­he Versorgung kaputtgesp­art. Nun muss sich der Staat entscheide­n: Möchte er der alternden Bevölkerun­g hochwertig­e Versorgung zur Verfügung stellen? Oder müssen sich Pflegebedü­rftige – und dazu zählen früher oder später fast alle – sich darauf einstellen, dass sie nicht mehr die Versorgung erhalten, die ihnen gebührt?

Pflege ist, so wie Bildung, Soziales oder Kultur, ein Teil der Realwirtsc­haft und darf nicht PrivateEqu­ity-Investoren überlassen werden. Menschen, die in diesen Bereichen tätig sind, werden durch die Digitalisi­erung nur bedingt ersetzt werden können. Pflege muss im Spannungsf­eld der derzeitige­n Herausford­erungen zwischen Wirtschaft, Politik und Globalisie­rung neu gedacht und finanziert werden. Doch ein Plan für die langfristi­ge Finanzieru­ng fehlt bis heute.

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