Der akute Pflegenotstand und die Folgen
Gastkommentar. Zu lang hat man Pflege und medizinische Versorgung kaputtgespart. Ein Plan für die langfristige Finanzierung fehlt bis heute.
Fast täglich berichten Medien über fehlendes Pflegepersonal in Spitälern, Pflegeheimen und mobilen Diensten. Der Personalmangel ist schon lang bekannt. Nennenswerte Verbesserungen, die den Beruf attraktiv machen, gibt es nach wie vor kaum.
Ein praxisfernes Bild
Dass die Ausbildung für diplomierte Fachkräfte nun auf den Fachhochschulen stattfindet, führt weder zu mehr Personal beim Patienten noch zu einer besseren Versorgungleistung im Langzeitpflegebereich, da die meisten Fachhochschulabgänger eine Tätigkeit im Krankenhaus vorziehen. Es gibt zwar derzeit keine konkreten Zahlen, aber diejenigen, die eine Ausbildung als diplomierte Gesundheitsund Krankenpflegeperson (DGKP) über eine Fachhochschule absolviert haben, berichten, dass kein Einziger des Jahrgangs sich in der Praxis wiedergefunden habe.
Vielen wird in den akademisierten Lehrgängen ein völlig praxisfremdes Bild über die Pflege vermittelt, sodass die jungen Menschen überfordert sind, sobald sie in der Realität des Pflegealltags angekommen sind und in alleiniger Verantwortung bei unmenschlichen Personalschlüsseln handeln müssen.
Medial wird vorrangig der Personalmangel in Spitälern thematisiert, doch auch in allen anderen Pflegebereichen fehlt Personal. Betroffene Patientinnen und Patienten berichten, dass man in einem Alter von über 80 im Krankenhaus keine adäquate Versorgung erhalte, vor allem wenn Angehörige nicht dahinter seien. Hinzu kommt: Kassenärzte sind zwar verpflichtet, Hausbesuche durchzuführen, haben in der Regel aber immer weniger Zeit dafür, vor allem in Wien. Viele Ältere, die sich nur noch mit Rollator fortbewegen, meiden Arztbesuche, weil die Praxis nicht behindertengerecht erreicht werden kann. Oder es fehlt schlicht die physische Konstitution, einen Arztbesuch
durchführen zu können. Noch immer viel zu selten gesprochen wird vom Personalnotstand in Pflegeheimen und bei mobilen Diensten. Dabei entstehen dort gerade die größten Lücken. Über viele Jahre hinweg hat die Politik den Ruf nach Reformen im Gesundheitsund Pflegewesen (Harmonisierung der Sozialgesetze, einheitliche Kalkulationsmodelle für mobile Dienste etc.) ignoriert.
Verzweiflung, Morddrohungen
In Pflegeheimen werden derzeit Aufnahmesperren verhängt, weil es zwar Plätze (Betten) gäbe, aber kein Personal. Gleiches erfährt man von den mobilen Diensten. Personen, die an zentralen Anlaufstellen für Pflegevermittlung am Telefon arbeiten, berichten, dass sie mitunter Morddrohungen erhalten, wenn sie verzweifelten Angehörigen nicht umgehend einen Pflegeplatz vermitteln können.
Gut ausgebildetes Personal verlässt den Beruf ganz oder emigriert in andere Länder mit
besserer Bezahlung (das gilt übrigens für ganz Europa). Die derzeitige Offensive, mit der die ÖVP Niederösterreich den Import von 150 Pflegepersonen aus Vietnam favorisiert, die hier erst ausgebildet werden sollen, zeigt, wie verzweifelt man Pflegepersonal aus Billigländern anwirbt, um längst notwendige Reformen im Pflegewesen weiter auf die lange Bank zu schieben. In Privathaushalten findet man Betreuungskräfte aus sogenannten Drittstaaten wie Kosovo, Moldawien, Usbekistan, die dann um wenig Geld und außerhalb jeglicher Qualitätskontrollen die Betreuung übernehmen.
Auch sonst werden Tätigkeiten, die früher nur den (derzeit 108.650 registrierten) diplomierten Gesundheitsund Krankenpflegepersonen vorbehalten waren, an billigere Berufsgruppen delegiert. So dürfen Pflegeassistenten per Gesetz Blut abnehmen und andere Tätigkeiten durchführen, die DGKP vor zehn Jahren nicht einmal lernen durften, obwohl sie im Gesetz standen. Damit will man sichergehen, dass man immer noch genug günstiges Personal hat, falls die DGKP zu teuer werden, weil sie nun an Fachhochschulen ausgebildet werden.
Kompetenzverzerrung
Zugleich müssen DGKP bis heute allzu oft hauswirtschaftliche Tätigkeiten durchführen. Viele haben (auch) wegen dieser Kompetenzverzerrung den Beruf verlassen. Von permanenten Überstunden, nicht planbarer Freizeit, schlechter Bezahlung, inkompetenten Vorgesetzten ganz zu schweigen.
Aus der Praxis berichtet eine Krankenpflegeperson, die ihre Ausbildung über das AMS bezahlt bekommen hat, dass sie sich für drei Jahre bei einem Arbeitgeber verpflichten musste. Nun endet diese Zeit, und die Krankenpflegeperson will den Beruf wieder verlassen, weil die Zustände unhaltbar sind. Wiederholt wurde sie etwa aufgefordert, im Pflegeheim hauswirtschaftliche Tätigkeiten zu verrichten. Der Auftrag kam von der Pflegedienstleitung: Bei Personalmangel muss das diplomierte Personal alles machen. Die Pflegeperson bedauert, dass es wenig Solidarität im Team gibt, besonders Personal mit Migrationshintergrund neige dazu, den Willen der Leitung zu erfüllen. Pflegepersonal wird weder auf Fachhochschulen noch über den Berufsverband bezüglich Empowerment geschult. Eine breit angelegte Solidarisierung von Pflegepersonen über alle Settings hinweg wurde bisher weder von Gewerkschaften noch vom Berufsverband ins Auge gefasst. Derzeit vertreten verschiedenste Gewerkschaften die Pflegeberufe (GPA, VIDA, GÖD sowie die jeweiligen Gewerkschaften für Landesbedienstete in den jeweiligen Bundesländern). Diese ziehen nicht immer an einem Strang.
Mobile Dienste, stationäre Langzeitpflege, Akutbereich: In allen Bereichen herrscht akuter Notstand. Kürzlich fand eine Pressekonferenz der professionellen Fachpflege in der 24-Stunden-Betreuung statt, da auch diese für immer weniger Menschen leistbar wird. Die öffentliche Förderung des Sozialministeriums von 550 Euro wurde um 90 Euro erhöht. Davon können Betroffene nicht einmal den Teuerungsausgleich abdecken, geschweige denn die im Gesetz vorgeschriebene Qualitätssicherung bezahlen, die quartalsmäßig durchgeführt werden sollte. Fehlt die Qualitätskontrolle durch diplomiertes Fachpersonal, kommt es zu nicht adäquater Wundversorgung, zu Kontrakturen aufgrund unsachgemäßer Lagerung bis hin zum vorzeitigen Ableben der pflegebedürftigen Person.
Wir alle brauchen Pflege
Professionelle Pflege ist den Geldgebern ein Dorn im Auge, und doch wird kein Weg an ihr vorbei führen. Zu lang hat man Pflege und medizinische Versorgung kaputtgespart. Nun muss sich der Staat entscheiden: Möchte er der alternden Bevölkerung hochwertige Versorgung zur Verfügung stellen? Oder müssen sich Pflegebedürftige – und dazu zählen früher oder später fast alle – sich darauf einstellen, dass sie nicht mehr die Versorgung erhalten, die ihnen gebührt?
Pflege ist, so wie Bildung, Soziales oder Kultur, ein Teil der Realwirtschaft und darf nicht PrivateEquity-Investoren überlassen werden. Menschen, die in diesen Bereichen tätig sind, werden durch die Digitalisierung nur bedingt ersetzt werden können. Pflege muss im Spannungsfeld der derzeitigen Herausforderungen zwischen Wirtschaft, Politik und Globalisierung neu gedacht und finanziert werden. Doch ein Plan für die langfristige Finanzierung fehlt bis heute.