Den Menschen die beste Pflege geben
Die Pflege den Angehörigen – und damit oft Frauen – zu überlassen, ist nur auf den ersten Blick eine kostengünstige Lösung.
Alte Menschen und Laienpflegerinnen werden in Österreich nicht gerade hofiert. Das zeigt sich nicht zuletzt dadurch, dass sie nicht die nötige Unterstützung bekommen. Nun genau bei jenen zu sparen, die das ändern könnten und wollen, also bei der professionellen Pflege, ist wenig sinnvoll. Aber ausgerechnet das regt Mediziner Walter Waldhäusl in einem „Presse“-Gastkommentar (3. 1.) an. Dabei sind die Ausgaben im Pflegesektor in Österreich im OECDVergleich gering. Laut Wifo-Zahlen von 2018 betragen die Ausgaben 1,53 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dahinter liegen nur noch die OECD-Länder Italien, Spanien, Portugal und Griechenland.
Neue Familienstrukturen
Betrachten wir nun das von Waldhäusl erwähnte „über Jahrhunderte bewährte System“der Betreuung durch die Familie genauer. Dieses System gibt es nicht mehr, weil es die Familienstrukturen von vor hundert Jahren nicht mehr gibt. Bei Scheidungsraten von 50 Prozent und dynamischen Patchwork-Konstellationen sinkt gleichzeitig die Haltung des Sich-verantwortlich-Fühlens. Das ist aber Grundvoraussetzung für ein Betreuungsverhältnis. Des Weiteren möchten die Menschen in Österreich mit Recht nicht länger nur intuitiv von Laien, sondern von Professionistinnen und Professionisten gepflegt werden. Das gewichtigste Argument gegen das Hohelied auf die Laienpflege in der Familie ist allerdings die Tatsache, dass diese Arbeit in 78 Prozent der Fälle von Frauen erledigt wird. Das hat für die Betroffenen meist enorme Folgen und gipfelt häufig in Altersarmut.
Dass die Pflege durch Angehörige, auf der Metaebene besehen, für unsere Gesellschaft zuerst als der attraktivste, weil kostengünstige, erscheint, verwundert mich nicht. Es lohnt jedoch ein zweiter Blick und dieser enthüllt die dahinter stehenden Probleme und das dadurch erzeugte
Leid. Um nicht missverstanden zu werden: Die Unterstützung in der Lebensführung durch Familienangehörige, wenn die Einschränkungen nur mäßig ausgeprägt sind, ist ein hohes Gut. Die Familien leisten hier großartige und unverzichtbare Arbeit. Sie dürfen mit dieser Aufgabe aber nicht alleingelassen werden. Insbesondere dann, wenn die Pflegebedürftigkeit bereits fortgeschritten ist, können Pflege, soziale Arbeit und andere Gesundheitsberufe große Hilfe bieten.
Die Zahlen sprechen lassen
Abgesehen davon, dass es ein Gebot der Würde ist, alten Menschen die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen, sprechen auch die wirtschaftlichen Kennzahlen für einen Ausbau der professionellen Pflege in der häuslichen Versorgung: Eine Ausweitung der Ausgaben für mobile Dienste um 100 Millionen Euro wäre mit einer Wertschöpfung von 170 Millionen Euro verbunden und würde 5000 Beschäftigte beziehungsweise 3000 Vollzeit-Äquivalente auslasten. Diese Effekte würden ein Sozialversicherungsund Steueraufkommen von 70 Millionen Euro generieren (Wifo 2018). Anstatt die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger wieder als das alleinige Problem der Frauen in die Familien zu behandeln, sollten wir alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen, um den Sektor der professionellen mobilen Pflege – nicht zuletzt durch Umsetzung der Weiter- und Erstverordnungskompetenz und der Förderung der Freiberuflichen Pflege – auszubauen.
Auf den derzeitigen Versorgungsmangel kann auf verschiedene Weise reagiert werden. Pflegeleistungen, wie es vor hundert Jahren üblich war, ausschließlich in die Hände von Laien zu geben, ist definitiv der schlechteste aller Wege.
Elisabeth Potzmann (*1969) ist Pflegewissenschafterin und Präsidentin im Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGK).