Unter Schock: Brasilien räumt auf
Sturm auf Brasilia. Die Sicherheitskräfte wurden von den Bolsonaro-Anhängern überrumpelt. Jetzt lösen sie überall im Land die Protestcamps vor den Militärkasernen auf. Und die Justiz geht gegen Verbündete des Ex-Präsidenten vor.
Buenos Aires/Brasilia. Am Tag danach erwachte Brasilien aus dem Schockzustand. In den frühen Morgenstunden umzingelten Polizeiverbände am Montag das Zeltlager, das Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro seit über zwei Monaten vor dem Eingang der Militärbasis in Brasilia aufgeschlagen hatten. Damit wollten die Bolsonaristas hier – und in vielen anderen Städten – die Streitkräfte dazu bewegen, die Macht zu übernehmen. Weil Lula am Neujahrstag vor 300.000 Anhängern Brasiliens Regierung zum dritten Mal übernahm, hatte sie gehofft, dass sich die Belagerung der Kasernen allmählich von allein auflösen werde.
Nun werden diese Camps von der Staatsgewalt abgeräumt, denn seit Sonntag ist klar, dass sie Keimzellen für deutlich mehr sind als nur friedlichen Protest. Nachdem am
Samstag Tausende Bolsonaro-Anhänger in die Hauptstadt auf der Hochebene gekommen waren, setzte sich am Sonntagmittag deren Protestzug in Bewegung. Am Montag veröffentlichte der Medienkonzern O Globo die Botschaften der Sicherheitsbeamten, die dem Gouverneur des Bundesdistrikts Brasilia von einem „ruhigen und geordneten friedlichen Protest“berichteten.
Doch als die Demonstranten auf dem Platz der drei Gewalten angelangt waren, zeigten sie, was sie von den Symbolen der brasilianischen Demokratie halten: Anders als ihre Vorbilder auf dem Kapitol in Washington verwüsteten sie nicht nur das Parlament, sie erstürmten auch noch das Höchstgericht und den Regierungssitz und zerstörten in allen drei Institutionen Mobiliar, Kunstgegenstände, Fensterscheiben.
Im Präsidentenpalast zerlegten sie das Büro der First Lady Rosângela da Silva, Lulas wichtigster Zuarbeiterin. Die Büros des obersten Gerichtshofs setzten die Demonstranten unter Wasser. Das zeigten Videos, die von der Regierung veröffentlicht wurden, nachdem Lula den Hauptstadtbezirk per Dekret unter die direkte Verwaltung der Bundesregierung genommen hatte.
Bolsonaro-Gefolgsleute in Brasilia
Im Lauf der Nacht zeigte die Justiz den Gouverneur Brasilias an, ebenso dessen Sicherheitsheitschef, beide enge politische Gefolgsleute Bolsonaros. Justizminister Flavio Dino und der Höchstrichter Alexandre de Moraes kündigten Maßnahmen an, die möglichst viele Teilnehmer der Umtriebe identifizieren sollen. Dazu werden Hotelbuchungen ebenso untersucht wie die Passagierlisten der mehr als 100 Busse, die Fanatiker aus vielen Landesteilen in die Hauptstadt brachten.
„Es gibt in der Geschichte unseres Landes keinen Präzedenzfall für das, was diese Leute getan haben. Sie müssen bestraft werden. Und wir werden herausfinden, wer die Financiers dieser Vandalen sind“, sagte Präsident Lula, der am Sonntag außerhalb der Hauptstadt eine von den jüngsten Überschwemmungen betroffene Stadt im Bundesstaat Sa˜o Paulo besucht hatte.
Jair Bolsonaro hat eine Weile verstreichen lassen, ehe er sich via Twitter zu dem Angriff äußerte. Aus Florida verlautbarte er, friedliche Demonstrationen seien Teil der Demokratie, aber die Aktionen am Sonntag hätten die Grenze überschritten. Er wies jedoch die Anschuldigungen Lulas zurück, er habe die Aktion unterstützt. Der Ex
Präsident hatte entgegen der Tradition nicht an Lulas Amtseinführung in der vergangenen Woche teilgenommen und war stattdessen in die USA gereist. Wie sein US-Vorbild Trump zweifelte auch Bolsonaro an der Integrität des brasilianischen Wahlsystems.
Dass Lulas Regierung sofort Zuspruch aus Lateinamerika, Europa, den USA und auch aus Russland bekam, war hilfreich für die Regierung, deren Bestandsfähigkeit eines der Themen der brasilianischen Leitartikler am Montag war. So machte das linke Lager in der Regierung dem gemäßigten Verteidigungsminister erhebliche Vorwürfe, die Zeltlager der Bolsonaristas nicht schon gleich nach Regierungsübernahme aufgelöst zu haben.
Wie reagieren die Gouverneure?
Ein anderes Thema am Montag war die Frage nach dem künftigen Umgang mit dem Phänomen rechter staatsfeindlicher Umtriebe. Deren Ziel sei es, Chaos zu säen, um die Übernahme der Macht durch das Militär zu provozieren, erklärt der Historiker Odilon Caldeira Neto, der seit Jahren über Rechtsextremismus in Brasilien forscht. Der Staat müsse versuchen, „den Grad der nationalen Durchdringung dieser terroristischen Gruppen, ihre Unterstützung, ihre Finanzierung und ihr Kontaktnetz zu identifizieren. All das muss herausgefunden werden.“
Obwohl die Liberale Partei, der sich Jair Bolsonaro ja erst vor gut einem Jahr angeschlossen hat, die Angriffe auf die Gebäude der drei Gewalten deutlich kritisiert hat, bleibt die Frage nach den Reaktionen der Bolsonaro-getreuen Gouverneure, die nun die Regierungen der wichtigsten Bundesstaaten Sa˜o Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais übernommen haben. Wie werden diese mächtigen Politiker den Rechtsextremen gegenübertreten?
Führungslose Bolsonaro-Bewegung
Eine weitere große Frage ist, wer diese Bewegung aus Lastwagenfahrern, Polizisten, Farmern, Waffennarren und evangelikalen Fanatikern anführen wird, solang Bolsonaro in den Vereinigten Staaten bleibt. Wird er zurückkehren und sich allfälligen Strafverfahren stellen? Und könnte die Justiz Bolsonaro wegen dessen Versäumnissen in der Coronapolitik oder der Aufhebung des Schutzes des Amazonas-Regenwalds überhaupt den Prozess machen, ohne gewaltsame Umtriebe zu riskieren?
Mache Kommentare sehen Lula nach dem 8. Jänner gestärkt und Bolsonaro isolierter. Für andere steht die neue Regierung vor einer enormen Herausforderung: Sie muss regieren, Brasilien wieder in die internationale Gemeinschaft einbinden und ernste Probleme wie den Hunger lösen, während über ihr die Bolsonaro-Bewegung wie ein Damoklesschwert schwebt.