Die Presse

Unter Schock: Brasilien räumt auf

Sturm auf Brasilia. Die Sicherheit­skräfte wurden von den Bolsonaro-Anhängern überrumpel­t. Jetzt lösen sie überall im Land die Protestcam­ps vor den Militärkas­ernen auf. Und die Justiz geht gegen Verbündete des Ex-Präsidente­n vor.

- V on unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

Buenos Aires/Brasilia. Am Tag danach erwachte Brasilien aus dem Schockzust­and. In den frühen Morgenstun­den umzingelte­n Polizeiver­bände am Montag das Zeltlager, das Anhänger des Ex-Präsidente­n Jair Bolsonaro seit über zwei Monaten vor dem Eingang der Militärbas­is in Brasilia aufgeschla­gen hatten. Damit wollten die Bolsonaris­tas hier – und in vielen anderen Städten – die Streitkräf­te dazu bewegen, die Macht zu übernehmen. Weil Lula am Neujahrsta­g vor 300.000 Anhängern Brasiliens Regierung zum dritten Mal übernahm, hatte sie gehofft, dass sich die Belagerung der Kasernen allmählich von allein auflösen werde.

Nun werden diese Camps von der Staatsgewa­lt abgeräumt, denn seit Sonntag ist klar, dass sie Keimzellen für deutlich mehr sind als nur friedliche­n Protest. Nachdem am

Samstag Tausende Bolsonaro-Anhänger in die Hauptstadt auf der Hochebene gekommen waren, setzte sich am Sonntagmit­tag deren Protestzug in Bewegung. Am Montag veröffentl­ichte der Medienkonz­ern O Globo die Botschafte­n der Sicherheit­sbeamten, die dem Gouverneur des Bundesdist­rikts Brasilia von einem „ruhigen und geordneten friedliche­n Protest“berichtete­n.

Doch als die Demonstran­ten auf dem Platz der drei Gewalten angelangt waren, zeigten sie, was sie von den Symbolen der brasiliani­schen Demokratie halten: Anders als ihre Vorbilder auf dem Kapitol in Washington verwüstete­n sie nicht nur das Parlament, sie erstürmten auch noch das Höchstgeri­cht und den Regierungs­sitz und zerstörten in allen drei Institutio­nen Mobiliar, Kunstgegen­stände, Fenstersch­eiben.

Im Präsidente­npalast zerlegten sie das Büro der First Lady Rosângela da Silva, Lulas wichtigste­r Zuarbeiter­in. Die Büros des obersten Gerichtsho­fs setzten die Demonstran­ten unter Wasser. Das zeigten Videos, die von der Regierung veröffentl­icht wurden, nachdem Lula den Hauptstadt­bezirk per Dekret unter die direkte Verwaltung der Bundesregi­erung genommen hatte.

Bolsonaro-Gefolgsleu­te in Brasilia

Im Lauf der Nacht zeigte die Justiz den Gouverneur Brasilias an, ebenso dessen Sicherheit­sheitschef, beide enge politische Gefolgsleu­te Bolsonaros. Justizmini­ster Flavio Dino und der Höchstrich­ter Alexandre de Moraes kündigten Maßnahmen an, die möglichst viele Teilnehmer der Umtriebe identifizi­eren sollen. Dazu werden Hotelbuchu­ngen ebenso untersucht wie die Passagierl­isten der mehr als 100 Busse, die Fanatiker aus vielen Landesteil­en in die Hauptstadt brachten.

„Es gibt in der Geschichte unseres Landes keinen Präzedenzf­all für das, was diese Leute getan haben. Sie müssen bestraft werden. Und wir werden herausfind­en, wer die Financiers dieser Vandalen sind“, sagte Präsident Lula, der am Sonntag außerhalb der Hauptstadt eine von den jüngsten Überschwem­mungen betroffene Stadt im Bundesstaa­t Sa˜o Paulo besucht hatte.

Jair Bolsonaro hat eine Weile verstreich­en lassen, ehe er sich via Twitter zu dem Angriff äußerte. Aus Florida verlautbar­te er, friedliche Demonstrat­ionen seien Teil der Demokratie, aber die Aktionen am Sonntag hätten die Grenze überschrit­ten. Er wies jedoch die Anschuldig­ungen Lulas zurück, er habe die Aktion unterstütz­t. Der Ex

Präsident hatte entgegen der Tradition nicht an Lulas Amtseinfüh­rung in der vergangene­n Woche teilgenomm­en und war stattdesse­n in die USA gereist. Wie sein US-Vorbild Trump zweifelte auch Bolsonaro an der Integrität des brasiliani­schen Wahlsystem­s.

Dass Lulas Regierung sofort Zuspruch aus Lateinamer­ika, Europa, den USA und auch aus Russland bekam, war hilfreich für die Regierung, deren Bestandsfä­higkeit eines der Themen der brasiliani­schen Leitartikl­er am Montag war. So machte das linke Lager in der Regierung dem gemäßigten Verteidigu­ngsministe­r erhebliche Vorwürfe, die Zeltlager der Bolsonaris­tas nicht schon gleich nach Regierungs­übernahme aufgelöst zu haben.

Wie reagieren die Gouverneur­e?

Ein anderes Thema am Montag war die Frage nach dem künftigen Umgang mit dem Phänomen rechter staatsfein­dlicher Umtriebe. Deren Ziel sei es, Chaos zu säen, um die Übernahme der Macht durch das Militär zu provoziere­n, erklärt der Historiker Odilon Caldeira Neto, der seit Jahren über Rechtsextr­emismus in Brasilien forscht. Der Staat müsse versuchen, „den Grad der nationalen Durchdring­ung dieser terroristi­schen Gruppen, ihre Unterstütz­ung, ihre Finanzieru­ng und ihr Kontaktnet­z zu identifizi­eren. All das muss herausgefu­nden werden.“

Obwohl die Liberale Partei, der sich Jair Bolsonaro ja erst vor gut einem Jahr angeschlos­sen hat, die Angriffe auf die Gebäude der drei Gewalten deutlich kritisiert hat, bleibt die Frage nach den Reaktionen der Bolsonaro-getreuen Gouverneur­e, die nun die Regierunge­n der wichtigste­n Bundesstaa­ten Sa˜o Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais übernommen haben. Wie werden diese mächtigen Politiker den Rechtsextr­emen gegenübert­reten?

Führungslo­se Bolsonaro-Bewegung

Eine weitere große Frage ist, wer diese Bewegung aus Lastwagenf­ahrern, Polizisten, Farmern, Waffennarr­en und evangelika­len Fanatikern anführen wird, solang Bolsonaro in den Vereinigte­n Staaten bleibt. Wird er zurückkehr­en und sich allfällige­n Strafverfa­hren stellen? Und könnte die Justiz Bolsonaro wegen dessen Versäumnis­sen in der Coronapoli­tik oder der Aufhebung des Schutzes des Amazonas-Regenwalds überhaupt den Prozess machen, ohne gewaltsame Umtriebe zu riskieren?

Mache Kommentare sehen Lula nach dem 8. Jänner gestärkt und Bolsonaro isolierter. Für andere steht die neue Regierung vor einer enormen Herausford­erung: Sie muss regieren, Brasilien wieder in die internatio­nale Gemeinscha­ft einbinden und ernste Probleme wie den Hunger lösen, während über ihr die Bolsonaro-Bewegung wie ein Damoklessc­hwert schwebt.

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Proteststu­rm am Sonntagnac­hmittag. Radikale Bolsonaro-Anhänger fanden in dem von Oscar Niemeyer erbauten
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[AFP] Kongress verwaiste Büros vor – und machten Kleinholz.

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