Die Presse

Die letzten Zuckungen der Bolsonaro-Ära

Der Sturm auf das Machtzentr­um in Brasilien folgte dem Drehbuch Trumps. Doch das südamerika­nische Land ist den USA bereits einen Schritt voraus.

- VON THOMAS VIEREGGE E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

Ordnung und Fortschrit­t? Die Vandalen, die das Machtzentr­um der brasiliani­schen Demokratie devastiert haben, haben sich in kanarienge­lbe Trikots gehüllt und in die Fahnen des Landes gewickelt, dessen Motto eben „Ordnung und Fortschrit­t“verheißt. Viel mehr zeugte der Sturm Tausender radikaler Anhänger Jair Bolsonaros auf den Kongress, den Obersten Gerichtsho­f und den Palácio do Planalto, den Regierungs­sitz in der Hauptstadt Brasilia, von Chaos, Anarchie und der Verachtung demokratis­cher Spielregel­n.

Die Szenen, die selbst bei gemäßigten Parteigäng­ern des Ex-Präsidente­n Schock und Ablehnung hervorrief­en, erinnerten ältere Brasiliane­r wie Präsident Luiz Inácio Lula da Silva an den Militärput­sch 1964 und jüngere an den Sturm auf das Kapitol in Washington: Was für US-Amerikaner der 6. Jänner 2021 ist, das ist für Brasiliane­r nunmehr der 8. Jänner 2023. Und nur einer glückliche­n Fügung – dem Angriff des Mobs an einem Sonntagnac­hmittag während der Ferien – war es zu verdanken, dass keine Menschenle­ben zu beklagen waren wie vor zwei Jahren in den USA.

Deklariert­es Ziel der Extremiste­n war – und ist es offenkundi­g noch immer –, eine „Interventi­on“, einen neuerliche­n Militärput­sch, zu evozieren, um das von ihnen heraufbesc­hworene Chaos zu beenden. In der Hoffnung, Sympathisa­nten des früheren Fallschirm­jägers Bolsonaro in Scharen in der Armee zu mobilisier­en, haben sie Autobahnen blockiert und wochenlang vor Militärkas­ernen kampiert – allerdings ohne Erfolg. Auch in der Polizei reicht die Unterstütz­ung nicht bis in die höchsten Ränge. Nach dem überrasche­nd knappen Wahlsieg Lulas blieb das Echo für einen breiten Protest aus. Bolsonaros ehemaliger Vizepräsid­ent, die Führung seiner Liberalen Partei und die Armeespitz­e haben sich sogar demonstrat­iv von ihm distanzier­t.

In einem fatalen Verzweiflu­ngs- und Vandalenak­t, der sich indes angekündig­t hatte, folgten die Bolsonaris­tas nun dem Drehbuch der glühenden Trumpisten. So wie sich der Rechtspopu­list Jair Messias Bolsonaro stets am Modell Trump orientiert hat. Er schürte Zweifel am Wahlsystem und sprach lang vor der Wahl bereits von Betrug, brachte „Fake News“in Umlauf,

mokierte sich über die Justiz und verhöhnte Lula als „Dieb“und „Verbrecher“. Als er ihm schließlic­h in der Stichwahl im Oktober unterlag, zog er sich trotzig in den Präsidente­npalast zurück. Er schwieg, erwies sich als miserabler Verlierer und ging somit mit schlechtem Beispiel voran – augenschei­nlich ein Charakterz­ug narzisstis­cher Autokraten.

So versuchte Bolsonaro, den Wahlsieg Lulas zu negieren – bis er sich zwei Tage vor der Amtsüberga­be am 1. Jänner nach einer weinerlich­en Abschiedsr­ede in den sozialen Medien just nach Florida, in die Heimat Trumps, absetzte, statt dem Nachfolger traditions­gemäß die Präsidente­nscherpe umzulegen. Im USExil wähnt er sich einstweile­n geschützt vor den Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft in Brasilia und wartet auf den Ruf zur Rückkehr. Von der Villa eines befreundet­en Martial-Art-Kämpfers in der Nähe von Orlando und Disneyworl­d schickt er zweideutig­e Botschafte­n aus: Er distanzier­t sich von den Ausschreit­ungen, zugleich bezeichnet er Lula lediglich als „derzeitige­n“Regierungs­chef.

Die Justiz tut gut daran, nach US-Vorbild die Umstürzler mit aller Härte des Gesetzes zu verfolgen und die Rolle Bolsonaros zu untersuche­n. Präsident Lula schwor bei seiner Angelobung, die Lager des tief polarisier­ten Landes zu versöhnen. Angesichts einer Wirtschaft­skrise und einer Mehrheit der Opposition im Kongress ist dies schwer genug für den Veteranen. Doch er kann sich bisher auf Brasiliens Institutio­nen und ein System verlassen, das Bolsonaro in großen Teilen fallen gelassen hat. Das Fundament des Staats hat standgehal­ten.

Selbst seine Partei ist dabei, den Bruch mit dem Autokraten Bolsonaro zu vollziehen – was die Republikan­er bei Trump verabsäumt haben. Ein Kapitalfeh­ler, wie sich gezeigt hat. Damit ist Brasilien den USA einen großen Schritt voraus. Die Ära Bolsonaro dürfte vorbei sein, der Protest radikaler Irrgänger sich verlaufen. Die Machtprobe der Bolsonaris­tas auf dem Platz der drei Gewalten in Brasilia war wohl ein letztes Fanal.

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