Die letzten Zuckungen der Bolsonaro-Ära
Der Sturm auf das Machtzentrum in Brasilien folgte dem Drehbuch Trumps. Doch das südamerikanische Land ist den USA bereits einen Schritt voraus.
Ordnung und Fortschritt? Die Vandalen, die das Machtzentrum der brasilianischen Demokratie devastiert haben, haben sich in kanariengelbe Trikots gehüllt und in die Fahnen des Landes gewickelt, dessen Motto eben „Ordnung und Fortschritt“verheißt. Viel mehr zeugte der Sturm Tausender radikaler Anhänger Jair Bolsonaros auf den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Palácio do Planalto, den Regierungssitz in der Hauptstadt Brasilia, von Chaos, Anarchie und der Verachtung demokratischer Spielregeln.
Die Szenen, die selbst bei gemäßigten Parteigängern des Ex-Präsidenten Schock und Ablehnung hervorriefen, erinnerten ältere Brasilianer wie Präsident Luiz Inácio Lula da Silva an den Militärputsch 1964 und jüngere an den Sturm auf das Kapitol in Washington: Was für US-Amerikaner der 6. Jänner 2021 ist, das ist für Brasilianer nunmehr der 8. Jänner 2023. Und nur einer glücklichen Fügung – dem Angriff des Mobs an einem Sonntagnachmittag während der Ferien – war es zu verdanken, dass keine Menschenleben zu beklagen waren wie vor zwei Jahren in den USA.
Deklariertes Ziel der Extremisten war – und ist es offenkundig noch immer –, eine „Intervention“, einen neuerlichen Militärputsch, zu evozieren, um das von ihnen heraufbeschworene Chaos zu beenden. In der Hoffnung, Sympathisanten des früheren Fallschirmjägers Bolsonaro in Scharen in der Armee zu mobilisieren, haben sie Autobahnen blockiert und wochenlang vor Militärkasernen kampiert – allerdings ohne Erfolg. Auch in der Polizei reicht die Unterstützung nicht bis in die höchsten Ränge. Nach dem überraschend knappen Wahlsieg Lulas blieb das Echo für einen breiten Protest aus. Bolsonaros ehemaliger Vizepräsident, die Führung seiner Liberalen Partei und die Armeespitze haben sich sogar demonstrativ von ihm distanziert.
In einem fatalen Verzweiflungs- und Vandalenakt, der sich indes angekündigt hatte, folgten die Bolsonaristas nun dem Drehbuch der glühenden Trumpisten. So wie sich der Rechtspopulist Jair Messias Bolsonaro stets am Modell Trump orientiert hat. Er schürte Zweifel am Wahlsystem und sprach lang vor der Wahl bereits von Betrug, brachte „Fake News“in Umlauf,
mokierte sich über die Justiz und verhöhnte Lula als „Dieb“und „Verbrecher“. Als er ihm schließlich in der Stichwahl im Oktober unterlag, zog er sich trotzig in den Präsidentenpalast zurück. Er schwieg, erwies sich als miserabler Verlierer und ging somit mit schlechtem Beispiel voran – augenscheinlich ein Charakterzug narzisstischer Autokraten.
So versuchte Bolsonaro, den Wahlsieg Lulas zu negieren – bis er sich zwei Tage vor der Amtsübergabe am 1. Jänner nach einer weinerlichen Abschiedsrede in den sozialen Medien just nach Florida, in die Heimat Trumps, absetzte, statt dem Nachfolger traditionsgemäß die Präsidentenscherpe umzulegen. Im USExil wähnt er sich einstweilen geschützt vor den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Brasilia und wartet auf den Ruf zur Rückkehr. Von der Villa eines befreundeten Martial-Art-Kämpfers in der Nähe von Orlando und Disneyworld schickt er zweideutige Botschaften aus: Er distanziert sich von den Ausschreitungen, zugleich bezeichnet er Lula lediglich als „derzeitigen“Regierungschef.
Die Justiz tut gut daran, nach US-Vorbild die Umstürzler mit aller Härte des Gesetzes zu verfolgen und die Rolle Bolsonaros zu untersuchen. Präsident Lula schwor bei seiner Angelobung, die Lager des tief polarisierten Landes zu versöhnen. Angesichts einer Wirtschaftskrise und einer Mehrheit der Opposition im Kongress ist dies schwer genug für den Veteranen. Doch er kann sich bisher auf Brasiliens Institutionen und ein System verlassen, das Bolsonaro in großen Teilen fallen gelassen hat. Das Fundament des Staats hat standgehalten.
Selbst seine Partei ist dabei, den Bruch mit dem Autokraten Bolsonaro zu vollziehen – was die Republikaner bei Trump verabsäumt haben. Ein Kapitalfehler, wie sich gezeigt hat. Damit ist Brasilien den USA einen großen Schritt voraus. Die Ära Bolsonaro dürfte vorbei sein, der Protest radikaler Irrgänger sich verlaufen. Die Machtprobe der Bolsonaristas auf dem Platz der drei Gewalten in Brasilia war wohl ein letztes Fanal.