Asyl- und Migrationsreform droht Scheitern
Die Europäische Kommission hatte im September 2020 ein komplexes Paket an Gesetzesreformen vorgeschlagen. Doch dessen rechtzeitiger Beschluss vor der Europawahl im Mai kommenden Jahres ist sehr fraglich.
Ein Jahrzehnt ist seit dem bisher letzten Beschluss eines wesentlichen europäischen Asylgesetzes vergangen – und es sieht mehr und mehr danach aus, als könnte die Asyl- und Migrationspolitik bis zur Europawahl im Mai 2024 auch weiterhin nicht grundlegend repariert werden. Es mangelt erstens an politischer Einigkeit zwischen den Ankunftsstaaten der Migranten im Süden Europas und deren Zielländern im Norden, zweitens ist das Europaparlament bei fast allen der neun Gesetzesvorhaben, welche die Europäische Kommission im September 2020 als „Pakt“vorgeschlagen hatte, mit seinen Arbeiten säumig, was die Einigung mit dem Rat erschwert.
„Zeit bis Ende März 2024“
Lars Danielsson, Schwedens EUBotschafter und bis Ende Juni im Rahmen des schwedischen Ratsvorsitzes einer der wichtigsten politischen Akteure, übte sich am Montag in Zweckoptimismus. „Unsere Aufgabe ist es, die Gesetzesvorhaben
so weit reifen zu lassen, dass eine politische Einigung möglich ist. Wir haben Zeit bis Ende des ersten Quartals 2024“, sagte er vor dem Brüsseler Korrespondentenkorps. Das Zieldatum für die große politische Einigung, auf die sich die Mitgliedstaaten und das Europaparlament voriges Jahr verständigt hatten, wäre also Ende März.
Danielsson ist der Ansicht, dass die Bedingungen für den Beschluss einer Reform des Asylund Migrationswesens der Union so gut seien wie seit Jahren nicht mehr. „Es gibt weit mehr Willen seitens der Mitgliedstaaten, sich zu einigen“, erklärte er. „Die Diskussionen zwischen den Ankunftsstaaten und jenen im Hinterland sind nicht mehr so toxisch. Alle wissen, dass wir ein gemeinsames Interesse haben.“Doch sein Nachsatz bringt das grundlegende politische Problem auf den Punkt: „Natürlich weiß jeder, dass das ein Thema ist, mit dem man Wahlen gewinnen oder verlieren kann.“
Das wissen natürlich auch die Europaabgeordneten. Angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Krisenlage wird ohnehin erwartet, dass die politischen Kräfte an den linken und rechten Rändern des Parteienspektrums im nächsten Parlament stärker vertreten sein werden, als sie das ohnehin schon sind. Eine Einigung über die heiklen Themen Asyl und Migration unmittelbar vor der Wahl, die logischerweise eine Antwort auf die Frage finden muss, welche Mitgliedstaaten für Asylwerber und deren Verfahren zuständig sind: Das wäre Wind in den Segeln der rechtsextremen Kräfte.
Doch diese Frage der Zuständigkeit ist der Schlüssel zum Erfolg der Reform. Seit 2013 ist die Dublin-Verordnung in ihrer gegenwärtigen Form in Kraft: Und sie ist obsolet, weil das Prinzip, wonach der EU-Staat, in dem ein Asylwerber zuerst ankommt, für sein Verfahren zuständig sein soll, nicht mehr eingehalten wird. „Dublin“ist zum Unwort geworden, weshalb die Kommission es in ihrem Pakt schamhaft durch eine „Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung“ersetzt.
Doch auch die kommt nicht voran: Im Rat steckt sie seit dem slowenischen Ratsvorsitz (zweite Jahreshälfte 2021) auf Arbeitsgruppenebene fest. Auch das Parlament ist nicht weiter: Da harrt der Text im zuständigen Ausschuss der Einarbeitung zahlreicher Abänderungsanträge. Ähnlich sieht das bei den anderen Texten aus, sogar bei der eher unkontroversiellen Reform der Eurodac-Verordnung aus (hier geht es um Erfassung und Abgleich biometrischer Daten), bei der der Rat verhandlungsbereit ist, nicht aber das Parlament.
Mehr Peitsche statt Zuckerbrot
Schweden wolle jedenfalls jenseits dieser innereuropäischen Fragen prüfen, ob die EU nicht nach außen, gegenüber Herkunfts- und Transitländern irregulärer Migranten, mehr auf die sprichwörtliche Peitsche setzen solle statt auf Zuckerbrot, sagte Danielsson: „Wir haben alle Werkzeuge, aber das Problem ist, dass wir sie nicht einsetzen, und wenn, dann nicht wirksam.“Beispiele für diese Druckmittel der EU wären der Entzug von Visa sowie von Handelserleichterungen – wogegen sich jedoch das Europaparlament sperrt.