„Die Oligarchen haben Angst“
Einst beriet er Russlands Premierminister, später Nawalny. Der „Presse“erklärt Sergej Gurijew, wo die Sanktionen danebengingen und was man über Putins Wirtschaftselite wissen muss.
2013 haben Sie für den nun inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny das Wirtschaftsprogramm geschrieben. Sollte er jetzt zur Wahl stehen, wozu würden Sie ihm wirtschaftlich raten?
Sergej Gurijew: Den Krieg stoppen, Friedensverhandlungen starten, Truppen aus der Ukraine abziehen, Reparationen zahlen sowie die Kriegsverbrecher einem internationalen Gericht übergeben. Und dann über die Aufhebung der Sanktionen verhandeln.
Sanktionen wurden in der Geschichte immer wieder leicht eingeführt, aber schwer aufgehoben. Jetzt kann man sich das noch schwerer vorstellen.
Sie haben recht, es wäre ein langer Prozess. Und Russland müsste zuerst umsetzen, was ich zuvor erwähnt habe. Mir scheint, dass Putin das nicht tun wird. Klar aber ist: Ohne Aufhebung der Sanktionen wird Russland kein Wirtschaftswachstum mehr schaffen.
Noch nie gab es so viele Sanktionen gegen ein Land. Dennoch ist Russlands Wirtschaft 2022 nicht – wie prognostiziert – bis zu zehn Prozent gefallen, sondern wohl nur um etwa drei Prozent. Hat Sie diese Resilienz auch verwundert?
Ja und nein. Faktum ist, dass der Wirtschaftsrückgang 2023 weitergeht. Die Resilienz hat damit zu tun, dass das Ölembargo erst im Dezember eingeführt wurde und das Embargo auf Ölprodukte erst diesen Februar folgen wird. Das Zweite ist, dass wir die Wirtschaft an den Zahlen des BIPs messen, Russland dieses aber durch eine höhere Rüstungsproduktion fördert. In Wirklichkeit sank die Lebensqualität – das Einzelhandelsvolumen fiel um zehn Prozent. Ohne Krieg sollte das BIP 2022 um drei Prozent wachsen. Die Diskrepanz zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist, ist riesig.
Putins Ex-Wirtschaftsberater Andrej Illarionov hat im Interview mit der „Presse“kürzlich auch gesagt, dass wir auf die falschen Kennzahlen schauen. Er nennt als wichtigsten Faktor den rasanten Schwund der Gold- und Währungsreserven. Stimmen Sie zu?
Ja. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Russland viele Wirtschaftsdaten nicht mehr publiziert. Wir wissen, dass es ein Budgetdefizit gibt, aber wir wissen nicht, wie genau die Ausgaben verteilt sind und wie viel mehr in die Verteidigung fließt. Der Schwund der Währungsreserven ist insofern brisant, als Russland kein Geld aufnehmen und aufgrund der hohen Inflation auch keines drucken kann.
Hat Putin noch genug Geld für den Krieg?
Vorerst hat Putin genug Geld für den Krieg. Aber wir wissen nicht, wie lang, weil wir nicht wissen, wie viel in den Krieg fließt und wie sich das Ölembargo auswirkt. Es gab ein solches Embargo bislang nicht.
Ich nehme an, dass die EU und die USA sich in Sanktionsfragen mit Ihnen beraten?
Ich bin mit vielen Wirtschaftsleuten
im Gespräch, formeller Berater bin ich nicht.
Sanktionen wirken selten schnell, wenn überhaupt. Auch die jetzigen. Vielleicht aber waren sie auch falsch konzipiert. Wie würden Sie rückblickend vorgehen, um Russlands Wirtschaft schneller zu treffen?
Ich plädierte von Anfang an, unverzüglich ein Ölembargo einzuführen. Die europäischen Politiker aber sagten, dass das zu teuer für ihre Wirtschaft sei. Dabei wäre das nicht so sehr der Fall gewesen, wie auch diverse deutsche Ökonomen berechneten. Bei einem schnellen Ölembargo hätte der Rubel nicht aufgewertet und Putin hätte weit weniger Geld für den Krieg gehabt.
Auch wenn das Ölembargo stark wirken wird: Ist das Verbot des Technologietransfers nach Russland nicht folgenschwerer?
Beides ist wichtig. Das Ölembargo könnte den Krieg schnell stoppen, dann aber aufgehoben werden. Der Mangel an Hightechprodukten und der Braindrain aber haben langfristig schwere Folgen. Wir sehen bereits, dass Russland Hochtechnologie zu fehlen beginnt.
Für 2023 sind die Prognosen extrem unterschiedlich: Das Wirtschaftsministerium prognostiziert einen BIP-Rückgang um weniger als ein Prozent, während die Alfa-Bank minus 6,5 Prozent voraussagt. Was sagen Sie?
Ehrlich gesagt, weiß es niemand. Wir zweifeln immer mehr an der Statistik. Gewöhnlich gilt der Internationale Währungsfonds als zuverlässig – er prognostiziert zwei Prozent BIP-Rückgang. Die AlfaBank ist insofern sehr interessant, als ihre Analysten auf wichtige Daten aus dem Mobilfunk- und Einzelhandelssektor zurückgreifen können, da die Alfa-Gruppe große Konzerne in beiden Sektoren hat.
Kommen wir zu den Oligarchen, die Sie alle gut kennen. Ist es nicht naiv, sie im Westen zu verfolgen? Denn einerseits siedeln sie nach Dubai oder anderswo hin, und andererseits haben sie keinen Einfluss mehr auf Putin.
Sie haben recht, dass die Milliardäre bis auf wenige Ausnahmen umsiedeln und sich nicht gegen Putin äußern. Teils fürchten sie sich, weil sie noch Geschäfte in Russland oder dort Verwandte haben. Teils haben sie auch Angst, ermordet zu werden, was man verstehen kann. Manche sind gegen den Krieg, aber nicht gegen Putin. Die Oligarchen haben Angst.
Also hat die Jagd auf sie im Westen auch keinen Sinn, oder?
Ja. Sie müssen aber einen wichtigen Grund für Sanktionen gegen sie bedenken. Stellen Sie sich vor, Sie haben als Oligarch einige Milliarden im Westen liegen. Und Sie haben Angst, gegen Putin aufzutreten, weil einige Ihrer Leute in Geiselhaft sind. Aufgrund dieser Geiseln aber könnte Putin Sie bitten, ihm finanziell zu helfen. Es geht also um einen Schutz der westlichen Demokratie. Enthüllungen zeigen, dass Putins Agenten nach wie vor im Westen aktiv sind. Er wird weiter versuchen, Wahlen zu beeinflussen und den Westen zu spalten – und könnte Oligarchengelder dafür verwenden.
Sie sind also dafür, dass der Westen so gegen Oligarchen vorgeht?
Der Westen hatte keine andere Wahl. Er signalisiert den Oligarchen: Wenn ihr öffentlich gegen
Putin auftretet, werden wir keine Sanktionen gegen euch verhängen.
Kurz zum wirtschaftsliberalen Lager im russischen Establishment, etwa den Chefs der Zentralbank oder einschlägiger Ministerien. Sie kennen alle persönlich. Einige von ihnen haben Putin vor Kriegsbeginn vor einer Eskalation gewarnt. Sind ihm solche Warnungen vollkommen egal?
Er versteht, was sie sagen. Aber er sagt: Ich treffe die politischen Entscheidungen, eure Aufgabe ist es, die Folgen für die Wirtschaft zu minimieren. Und man muss sagen, sie haben Putin geholfen, die Lage zu stabilisieren. Und jetzt helfen sie ihm, den Krieg zu finanzieren. Natürlich können sie sich dahingehend rechtfertigen, dass die Situation für die Menschen in Russland sonst noch schlechter wäre. Aber man muss wissen: Jede eingesparte Milliarde fließt nicht in eine Erhöhung der Pensionen, sondern den Kauf iranischer Drohnen.
Eigentlich ein Dilemma.
Nun, jede gesparte oder gerettete Milliarde Dollar werden die russischen Steuerzahler künftig als Reparationen zahlen müssen. Die professionelle Arbeit der wirtschaftsliberalen Elite hilft zwar jetzt, eine Finanzkrise zu vermeiden, versetzt aber langfristig der Wirtschaft einen schweren Schlag. Vielleicht sind einige von Putins Wirtschaftsleuten in der Situation von Geiseln, vielleicht bedroht Putin diese Leute mit dem Tod – das ist eine andere Frage. Aber sie helfen Putin, den Krieg zu finanzieren.
Viele dieser Leute sind prowestlich gesinnt, haben viele Jahre für die Entwicklung Russlands gearbeitet. Wie muss man sich jetzt ihr Psychogramm vorstellen?
Ich nehme an, dass ihnen das alles völlig gegen den Strich geht. Sie sehen, wie alles, was sie über Jahrzehnte aufgebaut haben, zerstört wird. Entweder fürchten sie Putin, oder sie sind ihm verpflichtet.