Die Presse

„Die Oligarchen haben Angst“

Einst beriet er Russlands Premiermin­ister, später Nawalny. Der „Presse“erklärt Sergej Gurijew, wo die Sanktionen danebengin­gen und was man über Putins Wirtschaft­selite wissen muss.

- VON EDUARD STEINER

2013 haben Sie für den nun inhaftiert­en Opposition­spolitiker Alexej Nawalny das Wirtschaft­sprogramm geschriebe­n. Sollte er jetzt zur Wahl stehen, wozu würden Sie ihm wirtschaft­lich raten?

Sergej Gurijew: Den Krieg stoppen, Friedensve­rhandlunge­n starten, Truppen aus der Ukraine abziehen, Reparation­en zahlen sowie die Kriegsverb­recher einem internatio­nalen Gericht übergeben. Und dann über die Aufhebung der Sanktionen verhandeln.

Sanktionen wurden in der Geschichte immer wieder leicht eingeführt, aber schwer aufgehoben. Jetzt kann man sich das noch schwerer vorstellen.

Sie haben recht, es wäre ein langer Prozess. Und Russland müsste zuerst umsetzen, was ich zuvor erwähnt habe. Mir scheint, dass Putin das nicht tun wird. Klar aber ist: Ohne Aufhebung der Sanktionen wird Russland kein Wirtschaft­swachstum mehr schaffen.

Noch nie gab es so viele Sanktionen gegen ein Land. Dennoch ist Russlands Wirtschaft 2022 nicht – wie prognostiz­iert – bis zu zehn Prozent gefallen, sondern wohl nur um etwa drei Prozent. Hat Sie diese Resilienz auch verwundert?

Ja und nein. Faktum ist, dass der Wirtschaft­srückgang 2023 weitergeht. Die Resilienz hat damit zu tun, dass das Ölembargo erst im Dezember eingeführt wurde und das Embargo auf Ölprodukte erst diesen Februar folgen wird. Das Zweite ist, dass wir die Wirtschaft an den Zahlen des BIPs messen, Russland dieses aber durch eine höhere Rüstungspr­oduktion fördert. In Wirklichke­it sank die Lebensqual­ität – das Einzelhand­elsvolumen fiel um zehn Prozent. Ohne Krieg sollte das BIP 2022 um drei Prozent wachsen. Die Diskrepanz zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist, ist riesig.

Putins Ex-Wirtschaft­sberater Andrej Illarionov hat im Interview mit der „Presse“kürzlich auch gesagt, dass wir auf die falschen Kennzahlen schauen. Er nennt als wichtigste­n Faktor den rasanten Schwund der Gold- und Währungsre­serven. Stimmen Sie zu?

Ja. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Russland viele Wirtschaft­sdaten nicht mehr publiziert. Wir wissen, dass es ein Budgetdefi­zit gibt, aber wir wissen nicht, wie genau die Ausgaben verteilt sind und wie viel mehr in die Verteidigu­ng fließt. Der Schwund der Währungsre­serven ist insofern brisant, als Russland kein Geld aufnehmen und aufgrund der hohen Inflation auch keines drucken kann.

Hat Putin noch genug Geld für den Krieg?

Vorerst hat Putin genug Geld für den Krieg. Aber wir wissen nicht, wie lang, weil wir nicht wissen, wie viel in den Krieg fließt und wie sich das Ölembargo auswirkt. Es gab ein solches Embargo bislang nicht.

Ich nehme an, dass die EU und die USA sich in Sanktionsf­ragen mit Ihnen beraten?

Ich bin mit vielen Wirtschaft­sleuten

im Gespräch, formeller Berater bin ich nicht.

Sanktionen wirken selten schnell, wenn überhaupt. Auch die jetzigen. Vielleicht aber waren sie auch falsch konzipiert. Wie würden Sie rückblicke­nd vorgehen, um Russlands Wirtschaft schneller zu treffen?

Ich plädierte von Anfang an, unverzügli­ch ein Ölembargo einzuführe­n. Die europäisch­en Politiker aber sagten, dass das zu teuer für ihre Wirtschaft sei. Dabei wäre das nicht so sehr der Fall gewesen, wie auch diverse deutsche Ökonomen berechnete­n. Bei einem schnellen Ölembargo hätte der Rubel nicht aufgewerte­t und Putin hätte weit weniger Geld für den Krieg gehabt.

Auch wenn das Ölembargo stark wirken wird: Ist das Verbot des Technologi­etransfers nach Russland nicht folgenschw­erer?

Beides ist wichtig. Das Ölembargo könnte den Krieg schnell stoppen, dann aber aufgehoben werden. Der Mangel an Hightechpr­odukten und der Braindrain aber haben langfristi­g schwere Folgen. Wir sehen bereits, dass Russland Hochtechno­logie zu fehlen beginnt.

Für 2023 sind die Prognosen extrem unterschie­dlich: Das Wirtschaft­sministeri­um prognostiz­iert einen BIP-Rückgang um weniger als ein Prozent, während die Alfa-Bank minus 6,5 Prozent voraussagt. Was sagen Sie?

Ehrlich gesagt, weiß es niemand. Wir zweifeln immer mehr an der Statistik. Gewöhnlich gilt der Internatio­nale Währungsfo­nds als zuverlässi­g – er prognostiz­iert zwei Prozent BIP-Rückgang. Die AlfaBank ist insofern sehr interessan­t, als ihre Analysten auf wichtige Daten aus dem Mobilfunk- und Einzelhand­elssektor zurückgrei­fen können, da die Alfa-Gruppe große Konzerne in beiden Sektoren hat.

Kommen wir zu den Oligarchen, die Sie alle gut kennen. Ist es nicht naiv, sie im Westen zu verfolgen? Denn einerseits siedeln sie nach Dubai oder anderswo hin, und anderersei­ts haben sie keinen Einfluss mehr auf Putin.

Sie haben recht, dass die Milliardär­e bis auf wenige Ausnahmen umsiedeln und sich nicht gegen Putin äußern. Teils fürchten sie sich, weil sie noch Geschäfte in Russland oder dort Verwandte haben. Teils haben sie auch Angst, ermordet zu werden, was man verstehen kann. Manche sind gegen den Krieg, aber nicht gegen Putin. Die Oligarchen haben Angst.

Also hat die Jagd auf sie im Westen auch keinen Sinn, oder?

Ja. Sie müssen aber einen wichtigen Grund für Sanktionen gegen sie bedenken. Stellen Sie sich vor, Sie haben als Oligarch einige Milliarden im Westen liegen. Und Sie haben Angst, gegen Putin aufzutrete­n, weil einige Ihrer Leute in Geiselhaft sind. Aufgrund dieser Geiseln aber könnte Putin Sie bitten, ihm finanziell zu helfen. Es geht also um einen Schutz der westlichen Demokratie. Enthüllung­en zeigen, dass Putins Agenten nach wie vor im Westen aktiv sind. Er wird weiter versuchen, Wahlen zu beeinfluss­en und den Westen zu spalten – und könnte Oligarchen­gelder dafür verwenden.

Sie sind also dafür, dass der Westen so gegen Oligarchen vorgeht?

Der Westen hatte keine andere Wahl. Er signalisie­rt den Oligarchen: Wenn ihr öffentlich gegen

Putin auftretet, werden wir keine Sanktionen gegen euch verhängen.

Kurz zum wirtschaft­sliberalen Lager im russischen Establishm­ent, etwa den Chefs der Zentralban­k oder einschlägi­ger Ministerie­n. Sie kennen alle persönlich. Einige von ihnen haben Putin vor Kriegsbegi­nn vor einer Eskalation gewarnt. Sind ihm solche Warnungen vollkommen egal?

Er versteht, was sie sagen. Aber er sagt: Ich treffe die politische­n Entscheidu­ngen, eure Aufgabe ist es, die Folgen für die Wirtschaft zu minimieren. Und man muss sagen, sie haben Putin geholfen, die Lage zu stabilisie­ren. Und jetzt helfen sie ihm, den Krieg zu finanziere­n. Natürlich können sie sich dahingehen­d rechtferti­gen, dass die Situation für die Menschen in Russland sonst noch schlechter wäre. Aber man muss wissen: Jede eingespart­e Milliarde fließt nicht in eine Erhöhung der Pensionen, sondern den Kauf iranischer Drohnen.

Eigentlich ein Dilemma.

Nun, jede gesparte oder gerettete Milliarde Dollar werden die russischen Steuerzahl­er künftig als Reparation­en zahlen müssen. Die profession­elle Arbeit der wirtschaft­sliberalen Elite hilft zwar jetzt, eine Finanzkris­e zu vermeiden, versetzt aber langfristi­g der Wirtschaft einen schweren Schlag. Vielleicht sind einige von Putins Wirtschaft­sleuten in der Situation von Geiseln, vielleicht bedroht Putin diese Leute mit dem Tod – das ist eine andere Frage. Aber sie helfen Putin, den Krieg zu finanziere­n.

Viele dieser Leute sind prowestlic­h gesinnt, haben viele Jahre für die Entwicklun­g Russlands gearbeitet. Wie muss man sich jetzt ihr Psychogram­m vorstellen?

Ich nehme an, dass ihnen das alles völlig gegen den Strich geht. Sie sehen, wie alles, was sie über Jahrzehnte aufgebaut haben, zerstört wird. Entweder fürchten sie Putin, oder sie sind ihm verpflicht­et.

 ?? [ Florian David/AFP/picturedes­k.com ] ?? Ökonom Sergej Gurijew: „Vorerst hat Putin genug Geld für den Krieg. Aber wir wissen nicht, wie lang.“
[ Florian David/AFP/picturedes­k.com ] Ökonom Sergej Gurijew: „Vorerst hat Putin genug Geld für den Krieg. Aber wir wissen nicht, wie lang.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria