Die meisten Forscher entdecken kaum noch Neues. Warum?
Eine statistische Analyse belegt einen beunruhigenden Trend, den viele vermutet haben: Der Anteil von Studien und Patenten, die bahnbrechend Neues bieten, ist über sechs Jahrzehnte dramatisch gesunken. Woran liegt es? Und wie können Politik oder Unis gege
Isaac Newton revolutionierte die Physik. Aber als bescheidener Mann meinte er: Dass er „weiter sehen“konnte, liege daran, dass er „auf den Schultern von Riesen“stand. So wurde Wissenschaft stets verstanden: Frühere Erkenntnis ermöglicht künftige, und weil der Wissensstand immer weiterwächst, nimmt das Tempo des Fortschritts zu. Aber dieses optimistische Bild stellen jüngere Analysen für einzelne Disziplinen infrage.
Viele fragen sich: Warum kriegen Forscher für immer ältere Arbeiten Nobelpreise? Warum gibt es in der Masse an „Papers“so wenige Durchbrüche? Bringen nicht die meisten Studien nur winzige Erkenntnisfortschritte? Das wäre beunruhigend. Denn von einer starken Dynamik in den Wissenschaften hängt sehr viel ab: Wachstum, Wohlstand, ein gesundes und längeres Leben.
Jetzt hat Russell Funk von der University of Minnesota zusammen mit zwei Kollegen die Befürchtungen bestätigt, über alle Bereiche hinweg (Nature, 4.1.). Durch einen schlauen Indikator: Fast jede Studie in einer Fachzeitschrift wird nach ihrer Veröffentlichung in anderen zitiert. Ziehen die späteren Artikel auch ältere Arbeiten heran, die schon in der ursprünglichen Studie zitiert wurden, dann hat diese den Wissensstand offenbar nur wenig erhöht. Wenn aber mit ihr der „Zitierreigen“erst beginnt, hatte sie wohl etwas bahnbrechend Neues zu bieten. Ein klassisches Beispiel: die Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der DNA von 1953.
Die Kennzahl reicht von -1 (rein „konsolidierend“) bis +1 (ganz „disruptiv“). 1945 lag sie, im Schnitt je Disziplin, im Bereich von 0,36 bis 0,52. Bis zum Jahr 2010 ging diese Bandbreite auf 0,00 bis 0,04 zurück. Ähnlich sieht es bei den Patenten aus. Eingerechnet wurden 45 Millionen Studien und 3,9 Millionen Patente. Die Analyse reicht zeitlich nicht weiter, weil Zitierungen der folgenden fünf Jahre einfließen. Der Trend dürfte aber ungebrochen sein, wie Analysen zu Einzeldisziplinen zeigen. Die banale Erklärung, dass sich Zitierregeln geändert haben, lässt sich ausschließen. Zudem zeigt die linguistische
Analyse: Früher kamen in Studien öfter neue Wörter vor und Verben, die auf Entdeckung oder Erfindung hindeuten. Heute geht es meist nur darum, dass etwas Bekanntes „verbessert“, „verstärkt“oder „erhöht“wird.
Die Menge an Wissen als Bürde
Woran liegt es? Eine populäre These: Die „niedrig hängenden Früchte“seien schon gepflückt. Dann müsste der Index aber bei reiferen Wissenschaften stärker zurückgehen als bei jungen, was nicht der Fall ist. Liegt es daran, dass auch die Qualität sinkt? Man darf davon ausgehen, dass sie bei Artikeln in TopJournals (wie „Nature“, „Science“oder „Proceedings“) weiterhin hoch ist, und erst recht bei solchen, für die es Nobelpreise gab. Aber auch hier geht der Index zurück.
Damit deutet alles auf einen anderen Grund hin: Es liegt gerade am potenziell anwachsenden Wissensstand. Die „Schulter von Riesen“wird zur Bürde. Forscher kommen kaum noch nach, alles zu lesen, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Zugleich zwingt sie der Wissenschaftsbetrieb, ständig zu publizieren. Was machen sie? Sie vertrauen auf veraltetes Wissen. Sie zitieren sich immer öfter selbst. Vor allem aber fokussieren sie sich auf einen immer engeren Forschungsbereich. Und man weiß: Echter Erkenntnisfortschritt gelingt meist dann, wenn Forscher vielfältige Quellen nutzen, Brücken schlagen, über den Tellerrand schauen.
Immerhin: Die absolute Zahl an wirklich bahnbrechenden Erkenntnissen am obersten Ende der Skala bleibt konstant. Für Geniestreiche gelten andere Gesetze, es gibt sie noch – wie den Nachweis der Gravitationswellen von 2015. Aber das beruhigt nur wenig angesichts von immer mehr Forschung, immer mehr Geld, das in sie fließt, und immer komplexeren Problemen wie dem Klimawandel. Was raten die Autoren den Universitäten und Regierungen? Sie sollten stärker auf Qualität als auf Quantität setzen, mehr langfristige Forschung mit ungewissem Ausgang finanzieren. Und den besten Forschern zeitliche Freiräume verschaffen – damit sie, wie Newton, die Schultern der Riesen nutzen können, um weiter zu sehen.