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Die meisten Forscher entdecken kaum noch Neues. Warum?

Eine statistisc­he Analyse belegt einen beunruhige­nden Trend, den viele vermutet haben: Der Anteil von Studien und Patenten, die bahnbreche­nd Neues bieten, ist über sechs Jahrzehnte dramatisch gesunken. Woran liegt es? Und wie können Politik oder Unis gege

- VON KARL GAULHOFER

Isaac Newton revolution­ierte die Physik. Aber als bescheiden­er Mann meinte er: Dass er „weiter sehen“konnte, liege daran, dass er „auf den Schultern von Riesen“stand. So wurde Wissenscha­ft stets verstanden: Frühere Erkenntnis ermöglicht künftige, und weil der Wissenssta­nd immer weiterwäch­st, nimmt das Tempo des Fortschrit­ts zu. Aber dieses optimistis­che Bild stellen jüngere Analysen für einzelne Diszipline­n infrage.

Viele fragen sich: Warum kriegen Forscher für immer ältere Arbeiten Nobelpreis­e? Warum gibt es in der Masse an „Papers“so wenige Durchbrüch­e? Bringen nicht die meisten Studien nur winzige Erkenntnis­fortschrit­te? Das wäre beunruhige­nd. Denn von einer starken Dynamik in den Wissenscha­ften hängt sehr viel ab: Wachstum, Wohlstand, ein gesundes und längeres Leben.

Jetzt hat Russell Funk von der University of Minnesota zusammen mit zwei Kollegen die Befürchtun­gen bestätigt, über alle Bereiche hinweg (Nature, 4.1.). Durch einen schlauen Indikator: Fast jede Studie in einer Fachzeitsc­hrift wird nach ihrer Veröffentl­ichung in anderen zitiert. Ziehen die späteren Artikel auch ältere Arbeiten heran, die schon in der ursprüngli­chen Studie zitiert wurden, dann hat diese den Wissenssta­nd offenbar nur wenig erhöht. Wenn aber mit ihr der „Zitierreig­en“erst beginnt, hatte sie wohl etwas bahnbreche­nd Neues zu bieten. Ein klassische­s Beispiel: die Entdeckung der Doppelheli­x-Struktur der DNA von 1953.

Die Kennzahl reicht von -1 (rein „konsolidie­rend“) bis +1 (ganz „disruptiv“). 1945 lag sie, im Schnitt je Disziplin, im Bereich von 0,36 bis 0,52. Bis zum Jahr 2010 ging diese Bandbreite auf 0,00 bis 0,04 zurück. Ähnlich sieht es bei den Patenten aus. Eingerechn­et wurden 45 Millionen Studien und 3,9 Millionen Patente. Die Analyse reicht zeitlich nicht weiter, weil Zitierunge­n der folgenden fünf Jahre einfließen. Der Trend dürfte aber ungebroche­n sein, wie Analysen zu Einzeldisz­iplinen zeigen. Die banale Erklärung, dass sich Zitierrege­ln geändert haben, lässt sich ausschließ­en. Zudem zeigt die linguistis­che

Analyse: Früher kamen in Studien öfter neue Wörter vor und Verben, die auf Entdeckung oder Erfindung hindeuten. Heute geht es meist nur darum, dass etwas Bekanntes „verbessert“, „verstärkt“oder „erhöht“wird.

Die Menge an Wissen als Bürde

Woran liegt es? Eine populäre These: Die „niedrig hängenden Früchte“seien schon gepflückt. Dann müsste der Index aber bei reiferen Wissenscha­ften stärker zurückgehe­n als bei jungen, was nicht der Fall ist. Liegt es daran, dass auch die Qualität sinkt? Man darf davon ausgehen, dass sie bei Artikeln in TopJournal­s (wie „Nature“, „Science“oder „Proceeding­s“) weiterhin hoch ist, und erst recht bei solchen, für die es Nobelpreis­e gab. Aber auch hier geht der Index zurück.

Damit deutet alles auf einen anderen Grund hin: Es liegt gerade am potenziell anwachsend­en Wissenssta­nd. Die „Schulter von Riesen“wird zur Bürde. Forscher kommen kaum noch nach, alles zu lesen, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Zugleich zwingt sie der Wissenscha­ftsbetrieb, ständig zu publiziere­n. Was machen sie? Sie vertrauen auf veraltetes Wissen. Sie zitieren sich immer öfter selbst. Vor allem aber fokussiere­n sie sich auf einen immer engeren Forschungs­bereich. Und man weiß: Echter Erkenntnis­fortschrit­t gelingt meist dann, wenn Forscher vielfältig­e Quellen nutzen, Brücken schlagen, über den Tellerrand schauen.

Immerhin: Die absolute Zahl an wirklich bahnbreche­nden Erkenntnis­sen am obersten Ende der Skala bleibt konstant. Für Geniestrei­che gelten andere Gesetze, es gibt sie noch – wie den Nachweis der Gravitatio­nswellen von 2015. Aber das beruhigt nur wenig angesichts von immer mehr Forschung, immer mehr Geld, das in sie fließt, und immer komplexere­n Problemen wie dem Klimawande­l. Was raten die Autoren den Universitä­ten und Regierunge­n? Sie sollten stärker auf Qualität als auf Quantität setzen, mehr langfristi­ge Forschung mit ungewissem Ausgang finanziere­n. Und den besten Forschern zeitliche Freiräume verschaffe­n – damit sie, wie Newton, die Schultern der Riesen nutzen können, um weiter zu sehen.

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