Die Presse

Hier sind die Achtzigerj­ahre gar nicht oberflächl­ich

„Die Passagiere der Nacht“mit Charlotte Gainsbourg bietet ein Stimmungs- und Gesellscha­ftsbild der 1980er-Jahre in Paris: In der Erzählung um eine aus ihrer Ehe gerissene Mutter und ein junges Mädchen ohne Zuhause erkennt man Wurzeln und Parallelen zu heu

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Das Revival der Achtzigerj­ahre dauert ja schon länger als die Achtzigerj­ahre selbst – in der Musik, in der Mode und natürlich in Filmen und Serien. Oft wird jenes Jahrzehnt mit einer gewissen Sorglosigk­eit, ja, erleichter­nden Oberflächl­ichkeit assoziiert – und solcherart als Gegengewic­ht zum Krisengefü­hl der Gegenwart empfunden.

Sorglos geht es im französisc­hen Film „Die Passagiere der Nacht“hingegen keineswegs zu. Auch er taucht uns in die Achtzigerj­ahre, und zwar in Frankreich, die dort fast zur Gänze mit einer neuen politische­n Ära zusammenfi­elen: 1981 wurde François Mitterrand zum ersten sozialisti­schen Staatspräs­identen seit 23 Jahren gewählt. Französinn­en und Franzosen lagen einander damals auf der Straße in den Armen.

Mit historisch­en Aufnahmen dieser ausgelasse­nen Straßenfei­ern startet auch „Passagiere der Nacht“, obwohl der Film im Folgenden nicht von Politik handelt – oder zumindest nicht direkt. Vielmehr erzählt er vom Leben einer Frau mit ihren zwei (fast) erwachsene­n Kindern in Paris.

Charlotte Gainsbourg, die als Sängerin und Schauspiel­erin bekannte Tochter von

Jane Birkin und Serge Gainsbourg, spielt zart und melancholi­sch die Mutter Elisabeth. Diese ist von ihrem Mann verlassen worden (ohne ihm die alleinige Schuld an der Trennung zu geben) und muss sich nun auf eigene Füße stellen – nicht zuletzt finanziell. Und das, obwohl sie nie beruflich tätig war.

Ihre Geschichte verbindet Regisseur Mikhae¨l Hers mit dem eines jungen Mädchens (gespielt von Noée Abita), das sich Talulah nennt – vermutlich nicht ihr richtiger Name. Talulah ist offenbar von zu Hause sowie von der Schule ausgerisse­n, nun lebt sie auf der Straße. Elisabeth nimmt sie bei sich auf, versucht, sie aus dem Drogenkons­um zu retten. Zwischen Elisabeths literarisc­h ambitionie­rtem Sohn und Talulah entspinnt sich außerdem eine zarte Beziehung.

Der Schmerz neuer Freiheit

Der Film „Die Passagiere der Nacht“ist zum einen ein Stimmungsb­ild der Achtzigerj­ahre, wie wir sie im Kopf haben, eingehüllt in Zigaretten­rauch, weich gezeichnet. Anderersei­ts und vor allem erzählt er anhand einer Familie und ihrer Umgebung Gesellscha­ftsgeschic­hte. Er zeigt eine Zeit im Umbruch, handelt von unterschie­dlichen schwierige­n, aber hoffnungsv­ollen Aufbrüchen in Lebensentw­ürfe

außerhalb vorgegeben­er Bahnen, von schmerzhaf­ten Geburtsweh­en einer neuen Freiheit.

Das zeigt sich auch an Elisabeths Sohn und Tochter ebenso wie an der prominent (nämlich mit Emmanuelle Béart) besetzten neuen Arbeitgebe­rin Elisabeths: Vanda moderiert eine Nachtsendu­ng, in der sie mit Anrufern sehr persönlich­e Gespräche über deren Vergangenh­eit und Kindheit führt. Ebenso wie Talulah bleibt uns ihre Geschichte verborgen, man ahnt nur, dass sie sich aus einer schwierige­n Beziehung befreit hat und nun selbstbewu­sst (im Hosenanzug) ihren eigenen Weg geht.

Auf den ersten Blick könnte dieser Ausflug in die französisc­he Vergangenh­eit wenig relevant erscheinen. Aber man erahnt bald, warum Regisseur Mikhae¨l Hers sich für den Stoff interessie­rt hat. Eine „Allianz von Sozialismu­s und Freiheit“definierte Mitterrand in seiner Antrittsre­de nicht umsonst als Ziel. Die 1980er-Jahre erscheinen im Film als Geburtsstu­nde eines Pluralismu­s, der heute selbstvers­tändlich erscheint, anderersei­ts vielen nicht mehr genügt: Insofern erscheint diese Zeit auch als Parallel-Jahrzehnt zu unserem, in dem es ebenfalls um gesellscha­ftliche Aufbrüche geht, hin zur Akzeptanz unterschie­dlichster Lebensentw­ürfe.

„Passagiere der Nacht“ist von (wiedergefu­ndener) Hoffnung im Alltäglich­en getragen: Eine Arbeit wird gefunden, eine Wohnung wird aufgelöst, eine neue Liebe bahnt sich an, Elisabeths Kinder brechen in die Selbststän­digkeit auf – und auch Talulah geht letztlich gestärkt ihrer eigenen ungewissen Wege. Zuversicht im Unsicheren siegt, und warum? Weil sich die Menschen im Film, selbst wenn sie wenig übereinand­er wissen, einander verbunden und füreinande­r verantwort­lich fühlen.

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[ Filmladen] Charlotte Gainsbourg als verlassene Ehefrau, die ein Mädchen ohne Zuhause bei sich aufnimmt.

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