Im Louvre explodieren alle „Dinge“
Die Sonderausstellung „Dinge“ist ein Akt des Größenwahns. Er musste scheitern, gönnt sich aber den Luxus, anhand von Meisterwerken fantastische Geschichten zu erzählen – von Manets Solospargel bis zu Nan Goldins Quarantäne-Blumen.
Werden wir uns daran erinnern, wie es war, als wir die Dinge wieder zu sehen lernten? Die fleckige Teekanne mit ihrem Sprung. Der gelbe Lampenschirm, auf dem der Staub sich über die Jahre gesammelt hat. Die Ansichtskarte aus Mallorca, die man irgendwann einmal mit einem Magneten an der Kühlschranktüre befestigt hat – wer war es nur, der sie gesandt hat? Mittlerweile ist es fast drei Jahren her, dass wir erstmals eingeschlossen waren mit den sonst vom Alltag aufgesogenen Dingen, die uns umgeben, mit denen wir uns umgeben haben. Unsere Blicke kamen nicht mehr an ihnen vorbei, sie wurden grell, bisweilen aufdringlich.
Viele begannen sie zu fotografieren, stellten sie ins Netz, arrangierten sie neu oder hielten sie, für einen Moment vielleicht nur, einfach in der Hand. Sein oder nicht sein, das war plötzlich die Frage, und dazu musste kein Totenkopf herhalten.
Die Ausstellung „Dinge“im Louvre wirkt wie eine Nachwehe dieser bereits historisch wirkenden Zeit, deren Zusammenspiel von Intensität und Langeweile viele und vieles aus der Bahn geworfen hat. Ein einst so harmlos kunsthistorisches Thema wie das Stillleben bekam dadurch Brisanz.
Es passt deshalb perfekt, dass am Beginn wie am Ende dieses monumentalen Wurfs einer Schau alles in die Luft gejagt wird. Eine Explosion der Welt, wie wir sie kannten: Eine wandfüllende Videoprojektion zeigt in Zeitlupe einen Truthahn über den blauen Himmel fliegen, es folgen Äpfel, Orangen, ein Hummer, eine Packung Cornflakes, Kleidungsstücke, Kabel, Bücher, ein ganzer Haushalt. Die berühmte epische Schlussszene von Michelangelo Antonionis verstörendem Hippie-Film „Zabriskie Point“(1970) ist Gast-Kuratorin Laurence Bertrand Dorléac hier Alpha und Omega.
Meisterwerke, zum Spielen ausgeborgt
Sie hatte eine so beneidenswerte wie unbewältigbare Aufgabe: Mit dem Louvre im Rücken konnte sie sich 170 Werke aus 70 der renommiertesten öffentlichen und privaten Sammlungen zum Spielen ausborgen, die hauseigene natürlich inklusive. Denn es kann nur ein größenwahnsinniges Spiel sein, wenn man versucht, die Darstellung der Dinge in der Kunst nachzuzeichnen.
Auf höchstem Niveau ist das hier gleichermaßen gelungen wie gescheitert. Vollständigkeit kann unmöglich erreicht werden. Eine Beliebigkeit bleibt unvermeidlich, soll doch ein Dialog aller Gattungen durch alle Zeiten geführt werden – von Gemälden,
Fotografie, Film, Skulptur, vom alten Ägypten, der katholischen Kirche, dem flämischen Blumenstillleben und den in einer Ecke aufgehäuften Zuckerln von Felix Gonzalez-Torres.
Die ersten Räume funktionieren in ihrer Verwirrung aus Stilen und Zeiten wie ein Schöpfungsakt. Aus ihm führt dann doch recht bald ein chronologisch stringenter Strang der Erzählung. Mit – eleganter geht es nicht – Mosaiken aus Pompeji setzt er ein. Darunter ein enorm schlichtes schwarzes Skelett auf weißem Grund, das Basquiat dort hinterlassen hätte haben können: Der Knochenmann trägt zwei Weinkrüge in Händen, Symbole für Leben und Tod, für Reichtum und Verwandlung. Womit man in etwa das Bedeutungsspektrum der Darstellung der Dinge über die Jahrtausende umrissen hätte.
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts, ab der Pop Art käme noch die Affirmation und die Kritik des Kapitalismus hinzu. Das Memento Mori, das Gemahnen an die Vergänglichkeit, ist aber bis zu Damien Hirsts toten Schmetterlingen und Gerhard Richters brennenden Kerzen ein recht sicherer Ariadnefaden durch das hier angelegte Symbollabyrinth. Die stärksten Momente der Schau ergeben sich aus den nur hier im Louvre möglichen einzigartigen Begegnungen. Erstmals etwa treffen hier zwei Meister-Stillleben aufeinander, die ihre heutige Bedeutung vor allem ihrem Bezug aufeinander verdanken: Der opulente, kleinteilige, aber großformatige „Nachtisch“des Rembrandt-Zeitgenossen Jan Davidsz de Heem – eine Art Schlachtengemälde der Dekadenz. Im selben Format daneben kommt jetzt jene Version zu hängen, die sonst nur aus weiter Entfernung grüßt, aus dem Museum of Modern Art in New York: die Version, die Matisse 1915 von dem Louvre-Gemälde schuf – und die in ihrer kubistischen Vereinfachung das aus allen Fugen Geratene des Originals betont.
Manet schickte einen Solospargel nach
Eine nicht so einmalige, aber doch seltene Zusammenführung gelang bei Manets bildgewordenem Spargel-Witz: 1880 kaufte der Pariser Kunstsammler Charles Ephrussi (aus dem „Hase mit den Bernsteinaugen“bekannt) Manet ein gerade fertiggestelltes „Spargelbündel“ab. 800 Franc wollte Manet, 1000 sandte ihm Ephrussi. Worauf Manet ihm noch einen Solospargel auf eine Leinwand malte : „Es fehlt noch einer in ihrem Bündel“, schrieb er dazu. Aus dem WallrafRichartz-Museum in Köln kam jetzt der Bund, aus dem Musée d’Orsay die Spargelstange. Vollständigkeit ist immer eine Freude.
Es ist nicht nur dem Genius des Ortes geschuldet, dass man im Historischen die Hoheit über die Erzählung der Dinge eher behält. Bei Duchamp – natürlich mit seinem Flaschentrockner vertreten – ist es vorbei mit der profanen Lust an der symbolischen Entschlüsselbarkeit der Dinge. Was nur logisch in die Antonioni-Explosion führt. Davor aber noch ein ganz klassischer Rückgriff, der die Schau auch in dieser postpandemischen Zeit verortet: Das durch seine lange Belichtung vibrierend scheinende Foto, das Nan Goldin von ihrem verwelkenden Blumenstrauß machte – am ersten Tag ihrer Quarantäne von 2020.