Stöbern im Müll soll straffrei werden
Wer sich Lebensmittel aus der Mülltonne eines Supermarktes nimmt, muss mit einer Anzeige wegen Diebstahl und Hausfriedensbruch rechnen. Die Regierung will das ändern.
Gerd P. wäre der Streit erspart geblieben. Auf einem Parkplatz in Sachsen war der 62-Jährige vor einem Jahr mit dem Mitarbeiter eines Supermarktes aneinander geraten. Der hatte den in seinem Auto sitzenden Pensionisten beschuldigt, an einer Mülltonne hantiert zu haben, in der sich weggeworfene Lebensmittel des Supermarktes befanden. Gerd P. fuhr los und touchierte den Mann dabei.
Am Montag wurde er in Dresden zu vier Monaten bedingter Haft wegen gefährlicher Körperverletzung und gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr verurteilt. Ob er wirklich etwas aus der Mülltonne entwendet hat, konnte vor Gericht nicht geklärt werden.
Das hätte alles noch schlimmer gemacht: Sich unerlaubt Essen aus einem Abfallbehälter eines Supermarktes zu nehmen, ist in Deutschland als Diebstahl strafbar.
Das wollen Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) ändern. Das so genannte „Containern“oder „Dumpstern“soll nicht mehr in allen Fällen als Diebstahl und Hausfriedensbruch verfolgt und bestraft werden. Das geht aus einem Schreiben der beiden an die Justizministerkonferenz der 16 Bundesländer hervor.
„Schwerer Diebstahl“
Demnach soll Containern nur noch bestraft werden, wenn ein Hausfriedensbruch vorliegt, „der über die Überwindung eines physischen Hindernisses ohne Entfaltung eines wesentlichen Aufwands hinausgeht oder gleichzeitig den Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllt“. In anderen Worten: Wer über eine kleine Mauer springt, um an eine Mülltonne zu gelangen, muss nicht mehr mit Strafe rechnen. Wer ein Tor aufbricht oder eine Tonne beschädigt, wird weiterhin angezeigt. Dafür könnte noch in diesem Jahr eine bindende Richtlinie für die Justiz erlassen werden, die den „Diebstahl weggeworfener Lebensmittel aus Abfallcontainern“betrifft, wie es aus dem Justizministerium heißt.
Der Streit um weggeworfene Lebensmittel beschäftigt die deutschen Gerichte seit Jahren. Ein bayerischer Jesuitenpater zeigte sich etwa mehrmals selbst wegen Diebstahls an, um auf die seiner Meinung nach falsche Rechtslage aufmerksam zu machen. Die beiden Studentinnen Caro und Franzi wandten sich im Jahr 2019 sogar an den Verfassungsgerichtshof.
Im Sommer zuvor hatten sie die Mülltonnen eines Supermarktes in der Nähe von München mit einem Vierkantschlüssel geöffnet und sich weggeworfenes Obst, Gemüse und Joghurt genommen. Die Staatsanwaltschaft sah einen „besonders schweren Fall des Diebstahls“. Die Richter beließen es aber bei acht Stunden Sozialarbeit. Trotz der milden Strafe legten die beiden Frauen eine Beschwerde beim Verfassungsgericht ein. Dort wurden sie abgewiesen – die weggeworfenen Lebensmittel seien Eigentum des Supermarktes.
Nicht zum ersten Mal wird nun von der Politik versucht, das Containern in Deutschland zumindest straffrei zu stellen. Ein Vorschlag aus Hamburg scheiterte im Jahr 2019 an den konservativ regierten Bundesländern. „Wir wollen nicht, dass sich Menschen in eine solche menschenunwürdige und hygienisch problematische Situation begeben“, sagte damals Sebastian Gemkow, der Sprecher der CDUgeführten Länder. Im Bundestag hatte Die Linke im Jahr 2020 einen Antrag gestellt, das Containern zu entkriminalisieren.
„Gesundheitliche Risiken“
Handelskonzerne wie die Kölner Rewe-Gruppe – sie betreibt in Österreich die Marken Billa, Penny, Bipa oder Adeg – sehen das Containern kritisch. In einem Positionspapier von April weist Rewe auf „gesundheitliche Risiken“hin. „Für externe Personen ist es nicht ersichtlich, warum die Lebensmittel im Container entsorgt wurden. Es kann sich um verdorbene Ware handeln, auch ohne sichtbare Anzeichen oder um Artikel aus Rückrufen“, so der Supermarktriese.
Wie in Frankreich per Gesetz verpflichtet zu werden, alle unverkauften Lebensmittel zu spenden, lehnt Rewe auch ab. Das würde zu „Überregulierung“und „bürokratischem Mehraufwand“führen.