Dieser Hit harmonisierte die USA
Für Bob Dylan ist „Wichita Lineman“der größte Song, der je geschrieben wurde. Ein neues Buch des Briten Dylan Jones zeichnet seine Entstehungsgeschichte nach.
I’m going to Wichita“, rief White-StripesSänger Jack White in seinem Stadionrock-Klassiker „Seven Nation Army“. Er sehnte sich nach einem ereignislosen Kaff, in dem er zur Ruhe kommen kann – und die nach einem einst dort ansässigen Indianerstamm benannte Stadt in Kansas ist Sinnbild für so einen Ort. Auch Jazzgitarrist Pat Metheny thematisierte Wichita einmal in einem Albumtitel: Das Cover von „As Falls Wichita, So Falls Wichita Falls“zeigt einen Telegrafenmast unter bedrohlich bewölktem Firmament. Im Hintergrund sieht man endlos flaches Land, im Vordergrund eine Hand, die den Hörer eines Bakelit-Telefons hält.
Das Foto wirkt wie ein verspäteter Kommentar auf einen Song, der 13 Jahre vorher die Welt erobert hat. Die Country-Pop-Ballade „Wichita Lineman“, von Bob Dylan jüngst als bester Popsong aller Zeiten gerühmt, eroberte 1968 nicht nur die Herzen der Amerikaner. Nüchtern erzählt er die Geschichte eines einsamen Fernmeldemonteurs, der in der Weite des Landes Telefonkabel flickt, um Kommunikation möglich zu machen. Auf nur sechzehn Zeilen Liedtext fängt Komponist Jimmy Webb die Essenz eines Schicksals ein. Die Schlüsselstelle lautet: „And I need you more than want you, and I want you for all time.“
„Wichita Lineman“gilt als erster existenzialistischer Country-Song. Sein Held ist ein Alltagsmensch des mittleren Westens. In einer Zeit, in der New York und San Francisco Schaltstellen der grellen Popkultur waren, wagte Webb den erstaunlichen Schritt, einen unauffälligen Menschen aus einem „Flyover State“zum Protagonisten zu machen. Im Zeitgeist war das nicht. Und doch schlug der Song voll ein, wie davor schon Webbs „By the Time I Get to Phoenix“– die Geschichte einer schwierigen Trennung, die am Ende über 180 Mal, etwa auch von Frank Sinatra und Nick Cave, gecovert worden ist.
Ein unfertiger Hit, aus Chaos geboren
1969 verwandelte Soul-Ikone Isaac Hayes die drei Minuten des im Original von Glen Campbell interpretierten Songs in ein Drama von nicht weniger als 18 Minuten und 40 Sekunden. „Wichita Lineman“war der bewusste Versuch, einen Hit nachzuschieben, der nicht nur zum Erstaunen seines Komponisten glückte. Der britische Autor Dylan Jones legt nun ein ganzes Buch vor, das der Magie dieses Songs nachgeht. Sein Untertitel lautet: „Searching in the Sun for the World’s Greatest Unfinished Song“.
Dass das unter chaotischen Umständen entstandene Lied unfertig ist, war bislang nicht bekannt. Der langhaarige Pfarrerssohn Webb ließ damals in bester Hippiemanier etwa 20 Leute in seiner Villa wohnen. Im Keller probte eine Band, Scherzkekse unter den Gästen hatten am Vortag Webbs Klavier grün angemalt. Die Farbe war noch feucht, als er sich die markante Melodie erstmals aus den Fingern spielte. Permanent läutete das Telefon. Sänger Glen Campbell wollte wissen, wie weit er sei. Irgendwann ließ Webb seinen unvollständigen Song los. Campbell – ein versierter Gitarrist, der auf Hits von Elvis Presley, Brian Wilson und den Righteous Brothers gespielt hat – ersetzte die fehlende Strophe mit einem sehr speziellen Solo.
Die legendäre Carol Kaye sorgte für eine grandiose Bassfigur, die in den Song leitet. Die Streicher evozierten das romantische Bild der endlosen Prärie, aus der Orgel schnaufte ein verfremdetes SOS-Signal, das klarmachte: Hilfe, Mensch in Not. Webb: „Da sind großer Schmerz und Einsamkeit in diesem Menschen. Wir haben alle diese Kapazität für große Gefühle.“Das Schöne an „Wichita
Lineman“ist die schlichte Erzählweise, sowohl musikalisch als auch textlich. Er ist gleichsam eine Bleistiftzeichnung, die jeder nach eigenen Bedürfnissen kolorieren kann.
Jones gönnt sich viel Raum für die Beschreibung der Charaktere von Webb und Campbell: Beide sind, nur 150 Kilometer voneinander entfernt, in bescheidenen Umständen aufgewachsen – und haben sich doch unterschiedlich entwickelt. Der eine wurde konservativ, der andere zum Hippie. Und doch fanden die beiden zueinander. „The Harmonising of America“nennt Jones sein Kapitel, in dem er herausarbeitet, dass ihre Karrieren ohne ihre Zusammenarbeit nicht in diesem Ausmaß geglückt wären.
„Wichita Lineman“wurde zum Hit, aber auch zum Klassiker. Jones: „Das Lied ist sublim wie eine Paul-Weller-Ballade, ein Donald-Fagen-Tonartwechsel oder eine Prefab-Sprout-Harmonie.“Hier schließt sich ein Kreis: Prefab-Sprout-Kopf Paddy McAloon, einer der profundesten Songwriter des britischen Pop, schwärmte einmal in einem „Presse“-Interview über Webbs Kunst. Einst begegneten die Genies einander beinah. McAloon traute sich leider nicht, Webb anzusprechen. „Ich war schon glücklich, im selben Raum wie er sein zu dürfen.“