Die Wut einer genderqueeren Rockröhre
„Hedwig and the Angry Inch“in Wien: das Kultmusical als Tour de Force.
Dragqueens sind in Musicals keine seltenen Figuren – aber keines widmet sich dem Seelenleben einer solchen Verwandlungskünstlerin mit derartig tragischer Wucht wie das 1998 abseits des Broadway uraufgeführte „Hedwig and the Angry Inch“von John Cameron Mitchell, der auch der ursprüngliche Hauptdarsteller war. Später schlüpften bekannte Schauspieler wie Neil Patrick Harris („How I Met Your Mother“) und Michael C. Hall („Dexter“) in die Rolle der zwischen Geschlechtern gefangenen Hedwig – und festigten damit den Kultstatus, den das Rock-Musical weltweit genießt.
Nicht zum ersten Mal ist es nun in Wien zu sehen (bis 29. 1.), gespielt vom Musical-Powercouple Drew Sarich (der auch musikalischer Leiter ist, neben Werner Sobotka als Regisseur) und Ann Mandrella (als Hedwigs Ehemann Yitzhak mit slawischem Akzent). Im Brigittenauer Keller-Varieté Vindobona – wo oft DragShows stattfinden – absolviert Sarich eine sängerische Tour de Force, die der wütenden Energie des Stücks entspricht, weniger aber in dessen psychologische Tiefe eintauchen lässt: Die aus Ostberlin nach Amerika geflohene Hedwig ist ermüdet von der lebenslangen Suche nach Vollkommenheit. Eine ihr aufgedrängte Geschlechtsoperation ging daneben, das titelgebende zolllange Stück Fleisch zwischen ihren Beinen blieb zurück.
Die stets etwas entrückten, das Feminine nur wacklig erfassenden Bewegungen des spektakulär aufgebrezelten Sarich deuten das Identitätsdilemma an. Assoziationen zu aktuellen Diskursthemen – Transphobie, Detransition – scheinen sich eher unabsichtlich aufzudrängen in diesem performativen, die vierte Wand brechenden Seelenstriptease, der als One-Woman-Rockshow inszeniert ist: Sarich röhrt, räkelt sich, leckt Gitarrensaiten, feuert schlüpfrige Zweideutigkeiten ab, bis Schweiß, Tränen und Schnaps sein Make-up auflösen. (kanu)