Was hat die Athene hier verloren?
Wer das sanierte Tempel-Fake bestaunen will, kommt an der griechischen Göttin nicht vorbei. Dabei sollte da eine „Austria“stehen. Wie sinnvoll ist die zweite Wahl?
Ein chronisch grantiger Wiener beginnt seine Heimatstadt erst zu schätzen, wenn man ihn zum Urlaub zwingt. Wie beim Herrn Travnicek, den Helmut Qualtinger so wunderbar raunzen ließ. Griechenland? „Das scheenste, was’ dort haben, is die Akropolis. Die schaut aus wie’s Parlament. Nur kann i da mit’n J-Wagen hinfahren und hab die Pallas Athene davur.“Ja, wenn ihn das Reisebüro nicht vermittelt hätt’ . . .
Am Donnerstag wird das Parlament nach fünf Jahren Renovierung feierlich neu eröffnet. Damit rückt auch die monumentale Statue vor der Rampe wieder ins Rampenlicht. Die fünf Meter hohe Zentralfigur des Brunnens ist uns Österreichern so vertraut, dass wir uns die Sinnfrage nicht mehr stellen. Dabei war die griechische Göttin nur die zweite Wahl: Ursprünglich sollte hier eine „Austria“stehen. Zu ihr hätten die anderen Figuren besser gepasst, Personifikationen von Flüssen in der österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie: eine holde Donau, ein bärtiger Inn, und hinten die sich innig umschlingenden Allegorien von Moldau und Elbe (auch Letztere entspringt in Böhmen). Aber man fürchtete, mit einer vergöttlichten Austria die rabiaten Deutschnationalen zu provozieren, und bog mutlos in die Antike ab.
Was der Bildhauer Carl Kundmann in akademisch-trockener Manier abgeliefert hat, harmoniert optisch mit dem Tempeltalmi dahinter. Aber inhaltlich? Athen als die „Wiege der Demokratie“, die Schutzgöttin der Stadt als wehrhafte Wächterin für diese noch junge Regierungsform in Österreich: So hat man sich das wohl vorgestellt. Aber in der mythologischen Urzeit, in der Athene agierte, ging die Macht nicht vom Volke aus, sondern von rauflustigen, rachsüchtigen Göttern. Eine Machowelt, in der sich eine Frau nur als Heerführerin behaupten konnte, mit Helm, Harnisch und Speer. Immerhin war sie für so viele Ressorts zuständig, dass ihre Schützlinge in einer Polis mehrheitsfähig koalieren konnten: Soldaten, Handwerker, Künstler, Spinner, Weber – und Wissensarbeiter, als Göttin der Weisheit. Dafür stehen auch ihre Eulen, die man deshalb nicht nach Athen zu tragen braucht. Und es ließe sich billig spotten: Ein wenig mehr Weisheit könnte vielen Abgeordneten nicht schaden.
Eine asexuelle Kopfgeburt
Aber warum der martialische Aufzug? So kam sie schon auf die Welt, auf ziemlich brutale Art. Ihr Vater Zeus hatte, nach einer Orakelwarnung vor allzu klugem Nachwuchs, ihre schwangere Mutter verschlungen – eine durchaus verstörende Alternative zur Abtreibung. Irgendwie schaffte es die Ungeborene in den Schädel von Zeus, was bei ihm heftige Kopfschmerzen auslöste. Also musste er an Mutters statt gebären. Als Hebamme fungierte Hephaistos, der ihm mit einem Hammer das Cranium zerschlug – so etwas übersteht nur ein Göttervater. Und heraus sprang Athene, in voller Montur, als Kopfgeburt.
Taugt sie als feministische Ikone? Weit gefehlt. Die Göttin trug ihrem Vater sein Vorgehen nicht nach, wurde gar seine Lieblingstocher. Auch dass Zeus in einen spielerischen Schwertkampf mit ihrer Ziehschwester Pallas so ungeschickt eingriff, dass diese starb, nahm sie ihm nicht übel, übernahm nur aus Trauer den Namen der Freundin. Und als Poseidon in einem ihrer Tempel die schöne Medusa vergewaltigte, rächte sie sich nicht etwa am Täter, sondern am Opfer, dass sie in ein hässliches Monster verwandelte. Als Perseus dessen Schlangenhaupt abschlug, führte Athene das Schwert, wie auch als Mentorin von Odysseus. „Vollen Herzens lob ich alles Männliche“, denn „des Vaters bin ich ganz“, lässt Aischylos sie in der „Orestie“deklamieren. Freilich mit dem Einschub „bis auf die Ehe“– denn an den Herd wollte sie sich nicht verbannen lassen, immerhin.
Mehr als nüchterne Kameradschaft war bei Athene aber ohnehin nicht drin. Sie schwor sich ewige Jungfräulichkeit. Wie auch Artemis, die aber vielleicht lesbischer Freuden frönte. Athene hingegen war jede erotische Begierde fremd, wie auch zärtliche Gefühle. Das macht sie zu einer heidnischen Schutzpatronin aller Asexuellen und Aromantiker – aber wollen wir solche affektiven Kühlschränke als Volksvertreter haben?
Und doch könnte hier ein tieferer Sinn der Sujetwahl liegen: Athene hält sich alle Gefühle vom Leib, empathische wie aggressive. Für ein solches Ethos in der Politik warb noch Hannah Arendt: Es sei „apolitisch“und ein „großes Unheil“, wenn man „die Liebe an den Verhandlungstisch bringt“. Die idealen Politiker folgen gemäß der Philosophin allein der Vernunft. Sie schüren keine Emotionen, bezichtigen ihre Gegner nicht der moralischen Minderwertigkeit. Sie suchen das bessere Argument, den besonnenen Ausgleich von Interessen. In diesem Sinn: Willkommen zurück, im Hohen Haus der Pallas Athene!