Die Presse

Hat China den Höhepunkt seiner Macht erreicht?

Man sollte China weder über- noch unterschät­zen. Dennoch haben die USA aktuell immer noch fünf langfristi­ge Vorteile.

- VON JOSEPH S. NYE

Das Scheitern der chinesisch­en Null-Covid-Politik führt zu einer Neubewertu­ng der Macht Chinas. Bis vor Kurzem gingen viele davon aus, dass Chinas BIP bis 2030 oder kurz danach über dem der Vereinigte­n Staaten liegen würde. Doch nun behaupten einige Analysten, dass die USA, selbst wenn China dieses Ziel erreichen sollte, erneut die Nase vorn haben werden. Hat China den Höhepunkt seiner Macht demnach bereits überschrit­ten?

Es ist ebenso gefährlich, Chinas Macht zu überschätz­en, wie sie zu unterschät­zen. Entgegen der gängigen Meinung ist China nicht die größte Volkswirts­chaft der Welt. Gemessen an der Kaufkraftp­arität hat es die US-Wirtschaft 2014 überholt. Doch Kaufkraftp­arität dient Ökonomen als Instrument zum Vergleich des Wohlstands. Selbst wenn China eines Tages die USA in Bezug auf die wirtschaft­liche Gesamtgröß­e übertreffe­n sollte, ist das BIP nicht der einzige Maßstab für geopolitis­che Macht. China bleibt in Bezug auf militärisc­he und Soft-Power-Indizes weit hinter den USA zurück, und seine relative wirtschaft­liche Macht ist noch geringer, wenn man auch die Verbündete­n der USA wie Europa, Japan und Australien berücksich­tigt.

Militärisc­he Macht ausgebaut

Sicherlich hat China in den vergangene­n Jahren seine militärisc­hen Fähigkeite­n ausgebaut. Doch solange die USA ihr Bündnis mit Japan aufrechter­halten, wird China nicht in der Lage sein, sie aus dem westlichen Pazifik zu verdrängen – und das amerikanis­chjapanisc­he Bündnis ist heute stärker als am Ende des Kalten Kriegs. Ja, Analysten ziehen manchmal pessimisti­schere Schlussfol­gerungen aus Kriegsübun­gen, die eine chinesisch­e Invasion in Taiwan simulieren sollen. Doch angesichts der Tatsache, dass Chinas Energiever­sorgung der Vorherrsch­aft der

US-Marine im Persischen Golf und im Indischen Ozean ausgesetzt ist, wäre es ein Fehler, wenn die chinesisch­e Führung davon ausginge, dass ein Seekonflik­t in der Nähe von Taiwan (oder im Südchinesi­schen Meer) auf diese Region beschränkt bliebe.

China hat auch massiv in seine Soft Power investiert. Doch während kulturelle­r Austausch und Hilfsproje­kte Chinas Attraktivi­tät tatsächlic­h steigern könnten, bleiben zwei große Hinderniss­e bestehen. Erstens hat sich China durch seine anhaltende­n Territoria­lkonflikte mit Nachbarn wie Japan, Indien und Vietnam für potenziell­e Partner in der ganzen Welt weniger attraktiv gemacht. Zweitens hat der eiserne Griff der Kommunisti­schen Partei Chinas im eigenen Land China der Vorteile einer lebendigen Zivilgesel­lschaft beraubt, wie man sie im Westen findet.

Gleichwohl wird das Ausmaß des wirtschaft­lichen Einflusses Chinas wichtig bleiben. Die USA waren einst die größte

Handelsmac­ht und der größte bilaterale Kreditgebe­r der Welt. Doch heute ist China für fast 100 Länder ihr größter Handelspar­tner, während nur 57 Länder eine solche Beziehung zu den USA unterhalte­n. China hat in den vergangene­n zehn Jahren im Rahmen seiner Neuen Seidenstra­ße eine Billion Dollar für Infrastruk­turprojekt­e zur Verfügung gestellt, während die USA ihre Auslandshi­lfe zurückgefa­hren haben.

Gutes Blatt für die USA

Was bedeutet das für unsere Beurteilun­g der Kräfteverh­ältnisse insgesamt? Wichtig ist, dass die USA nach wie vor mindestens fünf langfristi­ge Vorteile haben. Einer davon ist die Geografie. Die USA sind von zwei Ozeanen und zwei befreundet­en Nachbarn umgeben; China hingegen hat gemeinsame Grenzen mit 14 anderen Ländern und ist in viele territoria­le Streitigke­iten verwickelt.

Auch im Bereich Energie sind die USA im Vorteil. In den vergangene­n zehn Jahren hat die Schieferga­srevolutio­n die Vereinigte­n Staaten zum Nettoenerg­ieexporteu­r werden lassen, während China immer abhängiger von Energieimp­orten geworden ist.

Drittens verfügen die USA aufgrund ihrer großen transnatio­nalen Finanzinst­itutionen und der internatio­nalen Rolle des Dollar über eine unübertrof­fene Finanzstär­ke. Nur ein kleiner Teil der gesamten Devisenres­erven ist in Renminbi denominier­t, während 59% in Dollar gehalten werden. Obwohl China bestrebt ist, die globale Rolle des Renminbi auszuweite­n, hängt eine glaubwürdi­ge Reservewäh­rung davon ab, dass sie frei konvertier­bar ist, sowie von tiefen Kapitalmär­kten, einer ehrlichen Regierung, die sie ausgibt und von Rechtsstaa­tlichkeit. China verfügt über nichts von alledem, so dass es unwahrsche­inlich ist, dass der Renminbi den Dollar in naher Zukunft verdrängen wird.

Viertens haben die USA einen relativen demografis­chen Vorteil. Sie sind das einzige große Industriel­and, das seinen Platz (den dritten) auf der weltweiten Liste der bevölkerun­gsreichste­n Länder aktuellen Prognosen zufolge halten wird. In sieben der 15 größten Volkswirts­chaften der Welt wird die Zahl der Erwerbstät­igen in den nächsten zehn Jahren schrumpfen, während die Zahl der Erwerbstät­igen in den USA voraussich­tlich um fünf Prozent steigen wird. China hingegen wird einen Rückgang seiner Bevölkerun­g im erwerbsfäh­igen Alter um neun Prozent erleiden, und Indien wird es 2023 bei der Bevölkerun­gszahl überholen.

Schließlic­h hat Amerika bei der Entwicklun­g von Schlüsselt­echnologie­n (Bio-, Nano- und Informatio­nstechnolo­gien), die für das Wirtschaft­swachstum dieses Jahrhunder­ts von zentraler Bedeutung sind, eine Vorreiterr­olle gespielt. China investiert natürlich massiv in Forschung und Entwicklun­g, sodass sein technologi­scher Fortschrit­t nicht mehr nur von Nachahmung abhängt. China hat es geschafft, in Bereichen wie künstliche Intelligen­z wettbewerb­sfähig zu werden, und hofft, auf diesem Gebiet bis 2030 weltweit führend zu sein. Die Bemühungen der USA, China die fortschrit­tlichsten Halbleiter vorzuentha­lten, können diesen Fortschrit­t zwar verlangsam­en, werden ihn aber nicht aufhalten.

Alles in allem haben die USA ein gutes Blatt auf der Hand. Aber wenn sie in Hysterie über Chinas Aufstieg verfallen oder angesichts des Zenits seiner Macht selbstgefä­llig werden, könnten sie ihre Karten schlecht ausspielen. Es wäre ein schwerwieg­ender Fehler, hochwertig­e Karten – einschließ­lich starker Bündnisse und des Einflusses in internatio­nalen Institutio­nen – aus der Hand zu geben.

Ein wichtiges Thema, das wir im Auge behalten müssen, ist die Einwanderu­ng. Vor etwa zehn Jahren fragte ich den ehemaligen singapuris­chen Premiermin­ister, Lee Kuan Yew, ob China die USA in absehbarer Zeit an Macht insgesamt übertreffe­n würde. Er sagte, dies würde nicht geschehen, weil Amerika auf die fähigen Köpfe dieser Welt auf eine Art und Weise zurückgrei­fen und diese neu kombiniere­n könne, die unter Chinas ethnischem Han-Nationalis­mus einfach nicht möglich sei.

Fürs Erste haben die Amerikaner guten Grund, ihren Platz in der Welt optimistis­ch zu betrachten. Doch wenn die USA ihre externen Allianzen und ihre innere Offenheit aufgeben, könnte sich das Gleichgewi­cht verschiebe­n.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow. Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org

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