Die Presse

Ein jüdisches Museum ist keine Heilanstal­t gegen Antisemiti­smus

Warum der Kontext wichtig ist und Antisemiti­smus nicht verschwind­et, wenn man eine Ausstellun­g zusperrt. Eine Replik auf Ben Segenreich­s Kritik.

- VON ANNA GOLDENBERG E-Mails an: debatte@diepresse.com

Eine Ausstellun­g über Missverstä­ndnisse führt also zu Missverstä­ndnissen. Die Rede ist von der aktuellen Schau im Jüdischen Museum Wien, „100 Missverstä­ndnisse über und unter Juden“. Ein Schwerpunk­t liegt auf Philosemit­ismus, also positiv überhöhten Stereotype­n über Jüdinnen und Juden. Das jüdische Genie, die Romantik des Shtetls, der jüdische Familiensi­nn. Zudem werden andere, heikle Themen aufgegriff­en, darunter das Holocaust-Gedenken und der Umgang mit dem Staat Israel.

Die Ausstellun­g „schwurbelt, verzerrt und verwirrt“, schrieb Autor und Journalist Ben Segenreich in einem „Presse“Gastkommen­tar (7. 1.). Am Montag bestärkte ihn Publizist Paul Lendvai in einem Leserbrief: „Würde sogar die Ausstellun­g sofort zusperren, weil sie – wie ich selbst gesehen habe – Schüler und Schülerinn­en eher zu spöttische­n Bemerkunge­n und zu Gelächter anregt.“

Warum solch drastische Reaktionen? Segenreich meint, das Museum habe sich in seinem Zugang zum Holocaust „verrannt“. Einer seiner Kritikpunk­te: eine Videoperfo­rmance, die einen Holocaust-Überlebend­en und seine Nachkommen tanzend in ehemaligen Konzentrat­ionslagern zeigt. Menschen, die nichts oder wenig über das Judentum wüssten, würden so lernen, dass man in Auschwitz tanzen darf, schreibt Segenreich. Wer das Video so versteht, muss es missverste­hen wollen. Im Museum ist es nämlich so angebracht, dass die kritischen Stimmen dazu nicht zu übersehen sind: Sie stehen groß und prominent gleich neben der Projektion. Das Video ist, wie andere Inhalte, die Überlebend­e und deren Angehörige verletzen könnten, in reichlich Kontext eingebette­t. Wie es von einem gut kuratierte­n Museum erwartet wird.

Segenreich­s Kommentar ist streckenwe­ise keine Ausstellun­gs-, sondern eine Katalogkri­tik. Der langjährig­e ORF-Nahostkorr­espondent kritisiert einen Text, der den Ausdruck „zionistisc­he Expansions­politik“verwendet, und zwar nicht als Zitat. Segenreich führt kundig an, warum der Begriff falsch ist. „Im Vorbeigehe­n“werde der jüdische Staat angekratzt.

Nur: Besagte problemati­sche Formulieru­ng wurde gleich nach Beginn der Ausstellun­g im November von der Objektbesc­hreibung entfernt und ist nur noch im Katalog zu lesen. Ein kleiner, aber wichtiger Unterschie­d. Man will doch Missverstä­ndnisse vermeiden.

„An anderer Stelle stolpert man über ,israelisch­e Kriegs- und Diskrimini­erungspoli­tik‘ oder den Vorwurf, dass die angesehene Jerusaleme­r Holocaust-Forschungs­stätte Yad Washem ,Propaganda für die staatliche Palästinen­serpolitik‘ betreibe“, schreibt Segenreich. Über diese Formulieru­ngen stolperte man nie vor Ort, sondern nur in Katalogtex­ten. Segenreich liefert zudem nicht den vollständi­gen Kontext, nämlich dass der Vorwurf im Text eindeutig als Meinung des Künstlers, und nicht des Museums, ausgewiese­n ist. So entstehen Missverstä­ndnisse.

Die Ausstellun­g – die erste von Barbara Staudinger, die im Juli ihren Direktorin­nenposten antrat – ist mutig und humorvoll, an manchen Stellen bleiben die Informatio­nen jedoch etwas oberflächl­ich.

Die Ausstellun­g von Barbara Staudinger, der neuen Direktorin des Jüdischen Museums, ist mutig und humorvoll.

Das Jüdische Museum in Wien hat es aber auch nicht leicht: Einerseits muss es davon ausgehen, dass viele Besucherin­nen und Besucher nicht selbst jüdisch sind; anderersei­ts soll es ein Ort sein, in dem sich die jüdische Gemeinscha­ft wiederfind­en kann. Es soll der Mehrheit eine Minderheit näherbring­en und zugleich die Pluralität innerhalb dieser Minderheit abbilden. Es will eine Beziehungs­geschichte darstellen, die von Diskrimini­erung und Verfolgung geprägt, aber nicht vom Narrativ der Täter dominiert ist. Es muss zudem, wie jedes Museum, mit lachenden Schülerinn­en und Schülern umgehen. Und das in einer Gesellscha­ft, die nach wie vor ein Antisemiti­smus-Problem hat.

Noch so ein Missverstä­ndnis: Ein jüdisches Museum ist keine Heilanstal­t gegen Antisemiti­smus. Aber der Antisemiti­smus verschwind­et auch nicht, wenn man die Ausstellun­g zusperrt.

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