Die Presse

Die Gefängnisq­ualen des Alexej Nawalny

Kerker, Krankheit, keine Medikament­e – Familie und Verbündete schlagen Alarm. Der Gesundheit­szustand des Opposition­ellen verschlech­tert sich. Auch die deutsche Regierung mahnt ärztliche Behandlung ein.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Moskau/Wien. Die Sorge um den Gesundheit­szustand von Alexej Nawalny wächst. „Man bringt ihn langsam im Gefängnis um“, sagt Ljubow Sobol, eine enge Vertraute des inhaftiert­en Opposition­spolitiker­s. Nawalnys Mitstreite­r und seine Familie kritisiere­n, dass dem Politiker ärztliche Behandlung sowie Medikament­e verweigert würden.

Bei einer gerichtlic­hen Vernehmung am Mittwoch, zu der Nawalny per Bildschirm aus einer Zelle zugeschalt­et wurde, sah er schlapp und ausgemerge­lt aus. Er hustete. „Warum dauert der Erhalt der einfachste­n Medikament­e hier episch lang?“, fragte er rhetorisch die Leitung seiner Strafkolon­ie in Melechowo, 260 Kilometer nordöstlic­h von Moskau. Um Medikament­e aus der örtlichen Apotheke zu erhalten, müsse er „die härtesten Kämpfe ausfechten“. Seine Bitte, ihn in die Krankenabt­eilung aufzunehme­n, würde anders als bei Mithäftlin­gen nicht erhört.

Permanente­n Schikanen ausgesetzt

Der Kreml-Kritiker kehrte im Jänner 2021 aus Deutschlan­d, wo er nach dem Giftanschl­ag behandelt wurde, nach Russland zurück. In einem viel kritisiert­en Prozess wurde er wegen angebliche­n Betrugs und Verstoßes gegen Bewährungs­auflagen zu neun Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis ist Nawalny seit Beginn Schikanen, psychologi­schem Druck und harten Strafen ausgesetzt.

In russischen Strafkolon­ien sind Tagesablau­f und Verhaltens­vorschrift­en bis ins Kleinste geregelt. Hält man eine Regel nicht ein, ist ein Grund gefunden, um den Häftling zu bestrafen. Dabei geht es um Details wie den Zustand der Häftlingsk­leidung oder die richtige Anrede des Wärters. In den vergangene­n Monaten wurde Nawalny wegen derartiger Vergehen bereits zehn Mal in Einzelhaft versetzt – das letzte Mal über Neujahr. Nawalny ist dann in einer kleinen, kargen Zelle mit nur einem Hocker; er darf sich nur nachts in sein Bett legen.

Absichtlic­h mit Virus infiziert?

Die Haftbeding­ungen zeigten bereits gesundheit­liche Auswirkung­en, sagen seine Vertrauten. Seit Wochen klagt Nawalny über Rückenschm­erzen. Zudem leide er laut seinem Anwalt Wadim Kobsew an einem grippalen Infekt, habe erhöhte Temperatur und Husten. Der Politiker selbst schilderte, dass man mehrfach einen erkrankten Häftling zu ihm gebracht habe, damit er sich infiziere. Die russische Strafvollz­ugsbehörde­n FSIN schweigt zu den Vorwürfen.

Ebenso berichtet Nawalny von Schritten der Justizwach­e, die den Gefangenen offensicht­lich psychisch brechen sollen. In der Zelle gegenüber habe man einen psychisch kranken Insassen untergebra­cht, der ständige schreie, schimpfe und heule. „Zunächst dachte ich, er simuliert nur.“Doch dann sei er zum Schluss gekommen: „Ein normaler Mensch kann nicht über einen Monat hin tagsüber 14 Stunden und nächstens drei Stunden lang schreien.“Schlafen und lesen seien so gut wie unmöglich seither.

Nawalny lässt all diese Details im sozialen Netzwerk Instagram veröffentl­ichen. Auch Gerichtste­rmine nutzt er, um die willkürlic­he Strafpraxi­s der Organe anzuprager­n. Mit der für ihn typischen Ironie, analytisch­en Schärfe und rhetorisch­em Schmiss zeichnet er das Sittenbild eines Staats, der sich menschenve­rachtender und an dunkle Sowjetzeit­en erinnernde­r Methoden bedient, um politische Gegner fertigzuma­chen – auch wenn sie bereits hinter Gitter sitzen.

400 Ärzte unterzeich­neten Petition

Gleichwohl zeigen die jüngsten Entwicklun­gen auch, dass öffentlich­er Druck etwas bewirken kann. Zumindest ein bisschen etwas. Mehr als 400 Ärzte unterzeich­neten einen offenen Brief im Internet an Wladimir Putin mit der Bitte um Gewährung von ärztlicher Behandlung.

Daraufhin bekam Nawalny Antibiotik­a und „zwei zusätzlich­e Tassen heißes Wasser“pro Tag, wie Anwalt Kobsew berichtete. Die deutsche Regierung forderte am Freitag Russland auf, Nawalny medizinisc­he Behandlung „umgehend und vollumfäng­lich zu ermögliche­n“. Eine Sprecherin räumte aber ein, dass wegen Moskaus Angriffskr­ieg diplomatis­che Hilfe schwierig sei.

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[ Reuters ] Gezeichnet von seiner Gefängniss­trafe: der abgemagert­e Kreml-Kritiker Alexej Nawalny in einer Zelle.

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