Ein Regenbogen für Murmansk?
Expedition Europa: Die nördlichste Regenbogenparade der Welt, die „Barentspride“, findet im norwegischen Kirkenes statt, gleich an der Grenze zu Russland.
Der letzte norwegische Ort vor der russischen Grenze liegt näher an Moskau als an Oslo, laut einem vergilbten Plakat liegt er auch „östlich von Kairo“. Kirkenes, 352 Kilometer nördlich des Polarkreises, 3300 Einwohner, hatte mit seinen vielen russischen Zuwanderern, mit dem 1993 eingerichteten Barentssekretariat und mit Visafreiheit innerhalb einer 30-Kilometer-Grenzzone ein Modell von grenzüberschreitender Zusammenarbeit abgegeben. Ex-Bürgermeister Rune Rafaelsen, „der größte Freund Russlands in Skandinavien“, hatte sich seines russischen „Freundschaftsordens“gerühmt. Bei Kriegsbeginn schickte er ihn an Putin zurück.
Am Flughafen Kirkenes landend, versuchte ich mich an zwei reife bourgeoise deutsche Touristinnen zu hängen, die wurden aber „von einem Hundeschlitten abgeholt, da ist kein Platz mehr frei“. Zum Glück fuhr gerade ein russischer Kleinbus nach Murmansk ab. Der Fahrer bekannte sich per Georgsbändchen am Rückspiegel zur „Spezialoperation“, nahm mich aber für meine letzten Rubel, die ich ohnehin loswerden wollte, nach Kirkenes mit. Er hatte bloß vier Fahrgäste, die noch gerne einkaufen gegangen wären: „Kaffee und Käse ist in Norwegen billiger!“Er berichtigte, was die nunmehr exilierte „Nowaja Gaseta“geschrieben hatte: Russland habe an der Grenze keineswegs einen zweiten Schlagbaum hochgezogen, sondern nur den alten Schranken ersetzt, „der konnte von einem Auto durchbrochen werden“.
Es gab vier Stunden Zwielicht und zwanzig Stunden Nacht, der Schnee war im Ortskern zu haushohen Haufen zusammengeschoben, einige Locals bewegten sich auf einem winterlichen Fahrradersatz stehend fort, einem filigranen Tretschlitten namens „Spark“. Ich wollte Rafaelsen kennenlernen und örtliche Organisatorinnen der „Barentspride“, der „nördlichsten Regenbogenparade der Welt“, die jedes Jahr in
Kirkenes stattfand. Sie alle waren wie verschluckt, entweder gerade in den Süden abgeflogen oder noch nicht aus dem Süden zurück.
Ich traf stattdessen einen Menschenschlag von Sonderlingen an, angefangen vom ahnungslosen Stotterer am Empfang des Gemeindeamts, nicht endend bei den Kulturfunktionären in der Galerie „Terminal B“, die mir eine Info versprachen, mich dann aber sehenden Auges in der Kälte stehen ließen. Eine tunesische Jungmutter, die es als Gattin eines norwegischen Regionalbeamten hierher verschlagen hatte, träumte sich wie Tschechows „Drei Schwestern“fort. Nur dass sie nicht „Nach Moskau!“seufzte, sondern „Nach Oslo!“Vor dem Jobcenter standen rauchende Kursteilnehmerinnen. Die meisten waren Kriegsvertriebene aus der Ukraine.
Am Abend marschierten zwei schwarz gewandete russische Muschiks auf ein Ziel zu, ich heftete mich an sie. Nach einer halben Stunde betraten sie den Discountmarkt KIWI. Junge Norwegerinnen nahmen das Motto des Flaschenrückgabe-Automaten – „Wer wird der nächste Pfandmillionär?“– wörtlich. Der Fahrer eines Spezial-E-Bikes, ausgerüstet mit einer verstellbaren SpezialStirnlampe, teilte überall bei KIWI Grußworte aus. Außer fünf billigen Familientafeln Schokolade kaufte er nichts. Ich fragte den aus Russland eingewanderten Holzarbeiter, für wen die Schokolade war. „Für mich allein“, gab er zurück, „fürs Wochenende.“Das konnte ich nicht recht glauben, es war erst Dienstag.
Meine Reiseziele erreichte ich schließlich doch. Am Telefon, aus ihrer 100 Kilometer entfernten Wohnung, gab mir die KoOrganisatorin der nördlichsten Regenbogenparade der Welt Auskunft. Mariella war eine Transgenderfrau um die 70 und hatte das herzliche Lachen einer Wurzelhexe. Die „Barentspride“finde wegen der Nähe Russlands in Kirkenes statt, erklärte sie. 2022 sei insofern ein gutes Jahr gewesen, als „schon 30 der 400 Teilnehmer aus Russland kamen, 2019 waren es nur einer oder zwei gewesen“. Sie schloss mit den Worten: „We have a dream – eine Regenbogenparade in Murmansk.“
Der größte Freund Russlands in Skandinavien antwortete mir erst lange nach meiner Abreise: „Hei“, schrieb Ex-Bürgermeister Rafaelsen per Mail, „meine Gefühle sind nicht so wichtig. Wichtig ist jetzt, dass wir Putins Russland den Krieg nicht gewinnen lassen. Frieden kann nur erreicht werden, wenn russische Truppen von ukrainischem Boden verschwunden sind. Für den Moment sollte es keinen Kontakt mit der russischen Regierung geben. Aber nach dem Krieg werden wir sehen, was für ein Russland wir haben.“
Vom Flughafen Kirkenes abfliegend, saß ich bei zwei Murmanskerinnen, die schon vor vielen Jahren in den Süden emigriert waren, nach Oslo. Die eine zeigte mir ein Foto ihres Elternhauses. Es stand in Mariupol und war zerbombt. Die andere schrie: „Jetzt hör auf mit der Politik!“Ihr Wunsch wurde erfüllt, alle verstummten.