Der Leitwolf, der keiner sein will
Vincent Kriechmayr ist das neue Gesicht der Skination. Über eine Rolle, vor der sich der Oberösterreicher noch sträubt, die ihm aber wie auf den Leib geschneidert ist.
Dem Land, das wie kein zweites zur nationalen Inbesitznahme seiner SkiStars neigt, gehen ebendiese SkiStars gerade aus. Nirgends wird das deutlicher als auf der größten Bühne der Skination, den Hahnenkammrennen in Kitzbühel. Kein Marcel Hirscher mehr auf dem Ganslern, neuerdings auch kein Matthias Mayer mehr auf der Streif. Man könnte meinen, die Österreicher sind nur noch abseits der Pisten die Hauptdarsteller, bei den Legenden-Treffs und den Race Parties der Ex-Champions.
Und so stürzt sich alles auf einen Mann, der die rot-weiß-roten Fahnen in Kitzbühel hochhalten soll. Vincent Kriechmayr ist der einzige Österreicher, der in diesem Winter schon Weltcuprennen gewonnen hat, und der Einzige, dem auf der Streif ein Abfahrtssieg zugetraut wird. Kurzum: Er ist das letzte Zugpferd des Österreichischen Skiverbandes.
Geschlüpft in diese Rolle ist der Mann aus Gramastetten im Mühlviertel in jenem Moment, als Olympiasieger und KitzbühelChampion Matthias Mayer vor drei Wochen in Bormio spontan seinen Rücktritt erklärte. In Ermangelung von aufstrebenden rotweiß-roten Nachwuchsstars wird Kriechmayr diese Rolle auch auf unbestimmte Zeit behalten, bis zur Heim-WM 2025 in Saalbach-Hinterglemm wird wohl er als Gesicht der Skination herhalten müssen, mit Blick auf die ÖSV-Speedmannschaft jedenfalls noch für ein paar weitere Auflagen der Hahnenkammrennen.
Eine Rolle aber, die dem 31-Jährigen durchaus steht. Nicht nur wegen seiner Erfolge (amtierender
Doppelweltmeister, 14 Weltcupsiege, darunter die Abfahrtsklassiker in Wengen, Gröden und Bormio), auch dank seines Auftretens, seiner Bodenständigkeit, seines Humors und des Wissens um seine Verantwortung. „Ich habe bis jetzt schon eine schöne Karriere gehabt, ich bin eigentlich schon lang dabei.“
Vor dem zweiten Abfahrtstraining (11.30 Uhr, live, ORF 1) nimmt Kriechmayr in der Lounge des Hotels Kitzhof am Fuß des Hahnenkamm Platz. Viel habe er in den vergangenen Wochen über Ex-Kollege Matthias Mayer nachgedacht, erzählt er. „Was hat er mir gelernt? Was darf ich ja nicht vergessen? Wie ist er an die Sachen herangegangen? Er hat uns alle besser gemacht, vor allem mich.“Mayers Anliegen, seine Erfahrungen weiterzugeben und so eine junge, schlagkräftige Speedmannschaft aufzubauen, möchte Kriechmayr nun fortführen. Auch das soziale Gewissen seines Freundes hat im Team Einzug gehalten – und will ausgebaut werden. Zehn Prozent seines Preisgeldes stellt das gesamte Speed-Nationalteam samt Betreuer seit diesem Winter einer von Mayer federführend ins Leben gerufenen Charity zur Verfügung. „Es war immer unser Gedanke, dass wir etwas abgeben müssen, weil wir richtig viel Glück gehabt haben, dass wir unseren Sport machen und damit Geld verdienen dürfen. Und weil wir natürlich auch eine Vorbildfunktion haben. Dass die Leute sehen, dass wir nicht nur auf uns schauen.“
Ich glaube schon, dass sie Respekt vor mir haben aufgrund meiner Leistungen. Aber das ist jetzt keine Ehrfurcht, der Schmäh rennt.
Vincent Kriechmayr
Natürlich sind wir hinter unseren Erwartungen, auch ich habe schon Rennen verschenkt. Aber das Potenzial ist genauso da wie in den anderen Nationen.
Vincent Kriechmayr
Für seine Premiere in der neuen und alleinigen Leaderrolle hätte sich Kriechmayr kein denkwürdigeres Rennwochenende aussuchen können als Kitzbühel. Auch mangels Alternativen hat der ÖSV eine junge Garde an Weltcup-Neulingen in die Gamsstadt beordert, um sich einen Startplatz für die Abfahrt auszufahren. „Einen ganzen Haufen haben wir mit“, lacht Kriechmayr. „Ich glaube schon, dass sie Respekt vor mir haben aufgrund meiner Leistungen, aber das ist jetzt keine Ehrfurcht, der Schmäh rennt. Wenn ich früher aber eine ernsthafte Frage gehabt habe, habe ich immer einen Tipp bekommen. Genauso werden wir es mit den Jungen auch angehen.“
Kriechmayr weiß also um seine Anführerrolle, nur überbewerten will er sie nicht. „So etwas wie einen Leitwolf gibt es bei uns nicht“, sagt er. Auch das ein Zeichen der neuen Realität in der zurechtgestutzten Skination.