Die Presse

Soll denn die Ukraine kapitulier­en und sich unterjoche­n lassen?

Wer dem Westen ankreidet, den Krieg mit Waffenlief­erungen unnötig in die Länge zu ziehen, hat vielleicht nicht durchgedac­ht, was die Alternativ­e wäre.

- VON CHRISTIAN ULTSCH E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

Wie man sich täuschen kann. Der Mann galt einst als Reformhoff­nung Russlands. Dabei war Dimitrij Medwedjew immer nur ein treuer Diener seines Herrn und Meisters, von dem er sich willfährig wie eine Schachfigu­r hin- und herschiebe­n ließ. Von 2008 bis 2012 durfte er den Präsidente­nstuhl warmhalten, bis Wladimir Putin nach einem Intermezzo als Premiermin­ister in den Kreml zurückkehr­te. Und jetzt ist Medwedjew als stellvertr­etendem Leiter des Sicherheit­srats die Rolle des Scharfmach­ers zugedacht. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar des Vorjahrs drohte die Nummer zwei immer wieder mit dem Einsatz von Atombomben. In den vergangene­n Monaten fuchtelte er etwas weniger damit herum. Denn das verbündete Pekinger Regime hat nicht zuletzt beim G20-Gipfel in Bali sehr deutlich gemacht, dass es diese gefährlich­en rhetorisch­en Spielchen nicht schätzt.

Doch nun holte Medwedjew die Nuklearkeu­le wieder hervor. Eine Niederlage Russlands, die der Westen in der Ukraine herbeiführ­en wolle, könnte einen Atomkrieg auslösen, menetekelt­e er. Der Zeitpunkt kommt nicht zufällig. Adressat des düsteren Einschücht­erungsvers­uchs sind die Nato-Verteidigu­ngsministe­r, die am Freitag auf dem US-Stützpunkt Ramstein in Deutschlan­d über weitere Waffenhilf­en an die Ukraine beraten. Und besonders im Visier hat die russische Führung dabei den deutschen Kanzler, Olaf Scholz, der sich seit Monaten gegen die Lieferung von Leopard-2-Panzern querlegt.

Er wird sich dem Druck der Alliierten trotzdem eher früher als später beugen. Denn das geballte Verteidigu­ngsbündnis kniet derzeit auf ihm. Seinem Zaudern liegt ein durchaus ehrbares Motiv zugrunde, das seine Haltung seit Beginn des Kriegs prägt: Er will eine Eskalation des Konflikts verhindern. Doch am Ende gilt auch: Gut hilft nur, wer schnell hilft.

Nicht nur für Scholz, sondern auch für die gesamte Nato hat sich von Anfang an die Frage gestellt, in welchem Umfang der Ukraine Waffen geschickt werden können, ohne Russland zu einer unkontroll­ierbaren Ausweitung der Kampfzone zu provoziere­n. Die Allianz tastete sich dabei bisher recht verantwort­ungsbewuss­t vor. Sie schickte erst Panzerfäus­te, dann Lenkwaffen und Flugabwehr­raketen, aber kein Kriegsgerä­t für ukrainisch­e Angriffe, die wirklich weit ins russische Kerngebiet reichen könnten. Das Militärbün­dnis stellte Waffen zur Verfügung, die die ukrainisch­e Armee brauchte, um ihr Recht auf Selbstvert­eidigung wahrzunehm­en. Eine direkte Verwicklun­g in Kampfhandl­ungen indes schlossen die USA und ihre Verbündete­n aus.

Wer dem Westen ankreidet, den Krieg mit Waffenlief­erungen unnötig in die Länge zu ziehen, redet – ob bewusst oder nicht – der Kapitulati­on und Unterjochu­ng der Ukraine das Wort. Denn dann wäre der Krieg sehr schnell vorbei gewesen. Die Ukraine aber gäbe es nicht mehr oder nur noch als amputierte­n Vasallenst­aat. Und Putin hätte wohl schon Appetit auf die nächste Beute in seinem postsowjet­ischen Jagdrevier.

Wenn der russische Außenminis­ter, Sergej Lawrow, dem Westen nun vorwirft, einen Krieg gegen Russland zu führen und die „Endlösung“der russischen Frage anzustrebe­n, ist das angesichts des Vergleichs mit dem Holocaust nicht nur im äußersten Maß geschmackl­os, sondern auch eine pathologis­chgroteske Verdrehung der Tatsachen und Umkehr der Schuld. Die Gewalt ging von Russland aus. Niemand hat Putin gezwungen, sein Nachbarlan­d mit einem sinnlosen Krieg zu überziehen und dabei noch absichtlic­h zivile Ziele unter Beschuss zu übernehmen. Für diese Verbrechen ist er allein verantwort­lich, sonst niemand. Und er allein hätte es in der Hand, dieses Blutvergie­ßen zu stoppen. Das aber wird Putin erst tun, wenn die Gegenwehr ihm keine andere Alternativ­e als ernsthafte Friedensve­rhandlunge­n lässt. Und dafür braucht die Ukraine die nötigen Waffen. In Maßen und mit dem Ziel, das der Westen vorgegeben hat: zur Verteidigu­ng – und möglichst umfassende­n Rückerober­ung der Gebiete, die Russland nach der Invasion seit dem 24. Februar 2022 widerrecht­lich besetzt hat. Wer dabei wie Olaf Scholz zu lang zögert, hilft vielleicht zu spät.

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