Soll denn die Ukraine kapitulieren und sich unterjochen lassen?
Wer dem Westen ankreidet, den Krieg mit Waffenlieferungen unnötig in die Länge zu ziehen, hat vielleicht nicht durchgedacht, was die Alternative wäre.
Wie man sich täuschen kann. Der Mann galt einst als Reformhoffnung Russlands. Dabei war Dimitrij Medwedjew immer nur ein treuer Diener seines Herrn und Meisters, von dem er sich willfährig wie eine Schachfigur hin- und herschieben ließ. Von 2008 bis 2012 durfte er den Präsidentenstuhl warmhalten, bis Wladimir Putin nach einem Intermezzo als Premierminister in den Kreml zurückkehrte. Und jetzt ist Medwedjew als stellvertretendem Leiter des Sicherheitsrats die Rolle des Scharfmachers zugedacht. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar des Vorjahrs drohte die Nummer zwei immer wieder mit dem Einsatz von Atombomben. In den vergangenen Monaten fuchtelte er etwas weniger damit herum. Denn das verbündete Pekinger Regime hat nicht zuletzt beim G20-Gipfel in Bali sehr deutlich gemacht, dass es diese gefährlichen rhetorischen Spielchen nicht schätzt.
Doch nun holte Medwedjew die Nuklearkeule wieder hervor. Eine Niederlage Russlands, die der Westen in der Ukraine herbeiführen wolle, könnte einen Atomkrieg auslösen, menetekelte er. Der Zeitpunkt kommt nicht zufällig. Adressat des düsteren Einschüchterungsversuchs sind die Nato-Verteidigungsminister, die am Freitag auf dem US-Stützpunkt Ramstein in Deutschland über weitere Waffenhilfen an die Ukraine beraten. Und besonders im Visier hat die russische Führung dabei den deutschen Kanzler, Olaf Scholz, der sich seit Monaten gegen die Lieferung von Leopard-2-Panzern querlegt.
Er wird sich dem Druck der Alliierten trotzdem eher früher als später beugen. Denn das geballte Verteidigungsbündnis kniet derzeit auf ihm. Seinem Zaudern liegt ein durchaus ehrbares Motiv zugrunde, das seine Haltung seit Beginn des Kriegs prägt: Er will eine Eskalation des Konflikts verhindern. Doch am Ende gilt auch: Gut hilft nur, wer schnell hilft.
Nicht nur für Scholz, sondern auch für die gesamte Nato hat sich von Anfang an die Frage gestellt, in welchem Umfang der Ukraine Waffen geschickt werden können, ohne Russland zu einer unkontrollierbaren Ausweitung der Kampfzone zu provozieren. Die Allianz tastete sich dabei bisher recht verantwortungsbewusst vor. Sie schickte erst Panzerfäuste, dann Lenkwaffen und Flugabwehrraketen, aber kein Kriegsgerät für ukrainische Angriffe, die wirklich weit ins russische Kerngebiet reichen könnten. Das Militärbündnis stellte Waffen zur Verfügung, die die ukrainische Armee brauchte, um ihr Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen. Eine direkte Verwicklung in Kampfhandlungen indes schlossen die USA und ihre Verbündeten aus.
Wer dem Westen ankreidet, den Krieg mit Waffenlieferungen unnötig in die Länge zu ziehen, redet – ob bewusst oder nicht – der Kapitulation und Unterjochung der Ukraine das Wort. Denn dann wäre der Krieg sehr schnell vorbei gewesen. Die Ukraine aber gäbe es nicht mehr oder nur noch als amputierten Vasallenstaat. Und Putin hätte wohl schon Appetit auf die nächste Beute in seinem postsowjetischen Jagdrevier.
Wenn der russische Außenminister, Sergej Lawrow, dem Westen nun vorwirft, einen Krieg gegen Russland zu führen und die „Endlösung“der russischen Frage anzustreben, ist das angesichts des Vergleichs mit dem Holocaust nicht nur im äußersten Maß geschmacklos, sondern auch eine pathologischgroteske Verdrehung der Tatsachen und Umkehr der Schuld. Die Gewalt ging von Russland aus. Niemand hat Putin gezwungen, sein Nachbarland mit einem sinnlosen Krieg zu überziehen und dabei noch absichtlich zivile Ziele unter Beschuss zu übernehmen. Für diese Verbrechen ist er allein verantwortlich, sonst niemand. Und er allein hätte es in der Hand, dieses Blutvergießen zu stoppen. Das aber wird Putin erst tun, wenn die Gegenwehr ihm keine andere Alternative als ernsthafte Friedensverhandlungen lässt. Und dafür braucht die Ukraine die nötigen Waffen. In Maßen und mit dem Ziel, das der Westen vorgegeben hat: zur Verteidigung – und möglichst umfassenden Rückeroberung der Gebiete, die Russland nach der Invasion seit dem 24. Februar 2022 widerrechtlich besetzt hat. Wer dabei wie Olaf Scholz zu lang zögert, hilft vielleicht zu spät.