„Türkei schickt absichtlich Migranten weiter“
Zyperns Innenminister Nouris will in der EU einen radikalen Vorschlag für ein neues Asylsystem einbringen, bedauert Österreichs Nein zur Schengen-Aufnahme Bulgariens und Rumäniens – und befürwortet einen Nato-Beitritt.
Nach Zypern kommen überproportional viele Asylwerber. Österreichische Regierungspolitiker haben das EU-Asylsystem für gescheitert erklärt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Nicos Nouris: Europa hat es mit einer Migrationskrise zu tun. Viele Prozeduren funktionieren einfach nicht. Wir müssen das Problem an der Wurzel packen. Europa sollte in Drittstaaten in Afrika und Asien aktiv werden, aus denen illegale Migranten hauptsächlich kommen. Wir diskutieren jetzt in der EU seit drei Jahren einen neuen Asyl- und Migrationspakt und stecken ganz offensichtlich fest.
Warum gibt es keinen Konsens?
Für viele Staaten ist es schwierig zu akzeptieren, dass auch sie an Umsiedlungsprogrammen teilnehmen sollen. Denn sie fürchten, dann selbst Teil des Problems zu werden. Ich werde nächste Woche beim Treffen der EU-Innenminister in Stockholm eine Initiative ergreifen, um das Asylsystem neu aufzustellen. Österreichs Innenminister Gerhard Karner hat mir heute in Wien seine Unterstützung dafür zugesichert. Wir werden den Vorschlag gemeinsam einbringen: Anstatt Milliarden Euro auszugeben, um all die Migranten zu beherbergen, sollten wir in die Drittstaaten investieren, damit diese Menschen dort bleiben.
Was ist der Deal? Was soll Europa im Gegenzug erhalten?
Legale Migration. Wir brauchen Arbeitskräfte und könnten mit den Drittstaaten eine bestimmte Anzahl von Zuwanderertickets vereinbaren. Dafür müsste auch das Procedere für den Antrag auf Asyl geändert werden. Schutzsuchende sollen außerhalb Europas die Möglichkeit erhalten, in Hotspots des Roten Kreuzes oder der UNO oder auch in Botschaften Asylanträge zu stellen, anstatt ihr Leben bei Bootsfahrten übers Meer zu riskieren.
Neu ist diese Idee nicht. Warum wird sie nicht umgesetzt?
Vieles wird nicht umgesetzt. Doch wir müssen etwas tun. Wir erleben gerade einen neuen Höhepunkt bei Migrationsbewegungen.
Zypern zählt 1,2 Millionen Einwohner und hatte im Vorjahr 21.000 Asylanträge. Das ist die höchste Pro-Kopf-Rate in der EU. Woher kommen die Asylwerber?
94 Prozent kommen aus der Türkei, und zwar nicht in Booten, sondern mit dem Flugzeug aus Istanbul in den türkisch besetzten Teil Zyperns und von dort über die Grüne Linie zu uns. Die Mehrheit stammt aus Subsahara-Afrika.
Arbeiten Sie in irgendeiner Form mit den türkischen Behörden bei Migrationsfragen zusammen?
Leider nicht. Die Türkei erhält Geld von der EU, um syrische Flüchtlinge zu betreuen. Doch die Türkei erkennt die Republik Zypern politisch nicht an. Deshalb haben wir keine Möglichkeit, alle diese Migranten, die illegal aus der Türkei kommen, zurückzuschicken. Wir wollen eine Neuverhandlung des EU-Abkommens mit der Türkei erreichen, damit auch Zypern ausdrücklich darin erwähnt wird.
Die Türkei beherbergt unbestritten eine große Anzahl von Flüchtlingen aus Syrien. Missbraucht sie auch ihre Funktion als Schleusenwart und schickt Migranten weiter?
Die Türkei schickt absichtlich Migranten nach Zypern weiter. Das habe ich gegenüber der EU-Kommission bewiesen. Im besetzten Teil Zyperns gibt es 22 sogenannte institutionelle Universitäten. Die meisten Afrikaner aus SubsaharaAfrika, die mit dem Flugzeug aus Istanbul kommen, haben Studentenvisa. Sie zahlen Schleppern Geld dafür. Es ist eine Industrie.
Haben Sie Hinweise, dass türkische Behörden in dieses Geschäft verwickelt sind?
Wenn die Türkei wollte, könnte sie die Flüge einstellen. Wir fordern die EU-Kommission auf, den Turkish Airlines Sanktionen anzudrohen, falls sie weiter illegale Migranten aus Subsahara-Afrika nach Zypern bringt. Das hat schon einmal geklappt, um die Migrationsströme via Istanbul und Minsk nach Litauen zu unterbinden.
Bleiben die Migranten in Zypern, oder ziehen sie weiter?
Schlepper machen ihren Klienten weis, dass sie in ein europäisches Land gebracht werden, von dem aus sie überall hinreisen können. Doch das ist eine Lüge. Zypern gehört nicht zur Schengen-Zone und ist eine Insel. Die illegalen Migranten können nirgendwohin. Sie sitzen in der Falle. Und ihr Problem wird unser Problem.
Unlängst hat Deutschland Schutzsuchende aus Zypern aufgenommen.
150 – eine eher symbolische Zahl. Doch wir schätzen, dass Deutschland und Frankreich die Initiative für Umsiedlungen ergreifen.
Haben Sie Innenminister Karner gefragt, ob Österreich ein paar Asylwerber aus Zypern nimmt?
Ich habe heute mit Gerhard Karner darüber gesprochen. Doch mir ist klar, dass ich nicht darauf bestehen kann angesichts der großen Sekundärmigrationsströme in Österreich.
Österreich hat den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur Schengen-Zone blockiert, um ein Schlaglicht auf die Lücken im EU-Außengrenzschutz zu werfen. Was halten Sie davon?
Das war kein guter Tag für Europa. Ich hoffe, dass die Entscheidung während der schwedischen EUPräsidentschaft revidiert wird. Zypern wäre ja auch gern in der Schengen-Zone, aber wir wollen der Türkei keinen politischen Vorteil verschaffen, indem wir die Waffenstillstandslinie wie eine Außengrenze behandeln. Ich sage meinen EU-Kollegen oft, sie sollten sehen, was in Zypern vorgeht. Es ist eine Schande: Zypern ist das einzige noch geteilte Land in Europa.
Haben Sie Anzeichen, dass die seit 1974 bestehende Teilung der Insel in nächster Zeit überwunden werden könnte?
Präsident Nikos Anastasiadis hat sich sehr stark um eine Lösung bemüht. Ich bin aber nicht sehr optimistisch, wenn die Türkei so weitermacht wie bisher.
Ihr Land hatte traditionell gute Beziehungen zu Russland. Wie hat sich das durch den UkraineKrieg geändert?
Unsere Regierung hat klar gemacht, dass Zypern die Position der EU vertritt.
Zypern ist bündnisfrei. Hat der Ukraine-Krieg dazu geführt, über die sicherheitspolitische Positionierung nachzudenken?
Ich bin dafür, dass wir einen NatoBeitrittsantrag stellen. Das gibt uns zumindest die Möglichkeit, von der Türkei zu hören, welche Absichten sie hat. Griechenland und die Türkei sind Nato-Mitglieder und haben trotzdem all diese Konflikte miteinander. Es ist Zeit für die Europäer, sich zu fragen, ob sie einen Verbündeten in der Nato haben wollen, der Partnerstaaten Probleme bereitet.