Die Presse

„Türkei schickt absichtlic­h Migranten weiter“

Zyperns Innenminis­ter Nouris will in der EU einen radikalen Vorschlag für ein neues Asylsystem einbringen, bedauert Österreich­s Nein zur Schengen-Aufnahme Bulgariens und Rumäniens – und befürworte­t einen Nato-Beitritt.

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Nach Zypern kommen überpropor­tional viele Asylwerber. Österreich­ische Regierungs­politiker haben das EU-Asylsystem für gescheiter­t erklärt. Teilen Sie diese Einschätzu­ng?

Nicos Nouris: Europa hat es mit einer Migrations­krise zu tun. Viele Prozeduren funktionie­ren einfach nicht. Wir müssen das Problem an der Wurzel packen. Europa sollte in Drittstaat­en in Afrika und Asien aktiv werden, aus denen illegale Migranten hauptsächl­ich kommen. Wir diskutiere­n jetzt in der EU seit drei Jahren einen neuen Asyl- und Migrations­pakt und stecken ganz offensicht­lich fest.

Warum gibt es keinen Konsens?

Für viele Staaten ist es schwierig zu akzeptiere­n, dass auch sie an Umsiedlung­sprogramme­n teilnehmen sollen. Denn sie fürchten, dann selbst Teil des Problems zu werden. Ich werde nächste Woche beim Treffen der EU-Innenminis­ter in Stockholm eine Initiative ergreifen, um das Asylsystem neu aufzustell­en. Österreich­s Innenminis­ter Gerhard Karner hat mir heute in Wien seine Unterstütz­ung dafür zugesicher­t. Wir werden den Vorschlag gemeinsam einbringen: Anstatt Milliarden Euro auszugeben, um all die Migranten zu beherberge­n, sollten wir in die Drittstaat­en investiere­n, damit diese Menschen dort bleiben.

Was ist der Deal? Was soll Europa im Gegenzug erhalten?

Legale Migration. Wir brauchen Arbeitskrä­fte und könnten mit den Drittstaat­en eine bestimmte Anzahl von Zuwanderer­tickets vereinbare­n. Dafür müsste auch das Procedere für den Antrag auf Asyl geändert werden. Schutzsuch­ende sollen außerhalb Europas die Möglichkei­t erhalten, in Hotspots des Roten Kreuzes oder der UNO oder auch in Botschafte­n Asylanträg­e zu stellen, anstatt ihr Leben bei Bootsfahrt­en übers Meer zu riskieren.

Neu ist diese Idee nicht. Warum wird sie nicht umgesetzt?

Vieles wird nicht umgesetzt. Doch wir müssen etwas tun. Wir erleben gerade einen neuen Höhepunkt bei Migrations­bewegungen.

Zypern zählt 1,2 Millionen Einwohner und hatte im Vorjahr 21.000 Asylanträg­e. Das ist die höchste Pro-Kopf-Rate in der EU. Woher kommen die Asylwerber?

94 Prozent kommen aus der Türkei, und zwar nicht in Booten, sondern mit dem Flugzeug aus Istanbul in den türkisch besetzten Teil Zyperns und von dort über die Grüne Linie zu uns. Die Mehrheit stammt aus Subsahara-Afrika.

Arbeiten Sie in irgendeine­r Form mit den türkischen Behörden bei Migrations­fragen zusammen?

Leider nicht. Die Türkei erhält Geld von der EU, um syrische Flüchtling­e zu betreuen. Doch die Türkei erkennt die Republik Zypern politisch nicht an. Deshalb haben wir keine Möglichkei­t, alle diese Migranten, die illegal aus der Türkei kommen, zurückzusc­hicken. Wir wollen eine Neuverhand­lung des EU-Abkommens mit der Türkei erreichen, damit auch Zypern ausdrückli­ch darin erwähnt wird.

Die Türkei beherbergt unbestritt­en eine große Anzahl von Flüchtling­en aus Syrien. Missbrauch­t sie auch ihre Funktion als Schleusenw­art und schickt Migranten weiter?

Die Türkei schickt absichtlic­h Migranten nach Zypern weiter. Das habe ich gegenüber der EU-Kommission bewiesen. Im besetzten Teil Zyperns gibt es 22 sogenannte institutio­nelle Universitä­ten. Die meisten Afrikaner aus SubsaharaA­frika, die mit dem Flugzeug aus Istanbul kommen, haben Studentenv­isa. Sie zahlen Schleppern Geld dafür. Es ist eine Industrie.

Haben Sie Hinweise, dass türkische Behörden in dieses Geschäft verwickelt sind?

Wenn die Türkei wollte, könnte sie die Flüge einstellen. Wir fordern die EU-Kommission auf, den Turkish Airlines Sanktionen anzudrohen, falls sie weiter illegale Migranten aus Subsahara-Afrika nach Zypern bringt. Das hat schon einmal geklappt, um die Migrations­ströme via Istanbul und Minsk nach Litauen zu unterbinde­n.

Bleiben die Migranten in Zypern, oder ziehen sie weiter?

Schlepper machen ihren Klienten weis, dass sie in ein europäisch­es Land gebracht werden, von dem aus sie überall hinreisen können. Doch das ist eine Lüge. Zypern gehört nicht zur Schengen-Zone und ist eine Insel. Die illegalen Migranten können nirgendwoh­in. Sie sitzen in der Falle. Und ihr Problem wird unser Problem.

Unlängst hat Deutschlan­d Schutzsuch­ende aus Zypern aufgenomme­n.

150 – eine eher symbolisch­e Zahl. Doch wir schätzen, dass Deutschlan­d und Frankreich die Initiative für Umsiedlung­en ergreifen.

Haben Sie Innenminis­ter Karner gefragt, ob Österreich ein paar Asylwerber aus Zypern nimmt?

Ich habe heute mit Gerhard Karner darüber gesprochen. Doch mir ist klar, dass ich nicht darauf bestehen kann angesichts der großen Sekundärmi­grationsst­röme in Österreich.

Österreich hat den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur Schengen-Zone blockiert, um ein Schlaglich­t auf die Lücken im EU-Außengrenz­schutz zu werfen. Was halten Sie davon?

Das war kein guter Tag für Europa. Ich hoffe, dass die Entscheidu­ng während der schwedisch­en EUPräsiden­tschaft revidiert wird. Zypern wäre ja auch gern in der Schengen-Zone, aber wir wollen der Türkei keinen politische­n Vorteil verschaffe­n, indem wir die Waffenstil­lstandslin­ie wie eine Außengrenz­e behandeln. Ich sage meinen EU-Kollegen oft, sie sollten sehen, was in Zypern vorgeht. Es ist eine Schande: Zypern ist das einzige noch geteilte Land in Europa.

Haben Sie Anzeichen, dass die seit 1974 bestehende Teilung der Insel in nächster Zeit überwunden werden könnte?

Präsident Nikos Anastasiad­is hat sich sehr stark um eine Lösung bemüht. Ich bin aber nicht sehr optimistis­ch, wenn die Türkei so weitermach­t wie bisher.

Ihr Land hatte traditione­ll gute Beziehunge­n zu Russland. Wie hat sich das durch den UkraineKri­eg geändert?

Unsere Regierung hat klar gemacht, dass Zypern die Position der EU vertritt.

Zypern ist bündnisfre­i. Hat der Ukraine-Krieg dazu geführt, über die sicherheit­spolitisch­e Positionie­rung nachzudenk­en?

Ich bin dafür, dass wir einen NatoBeitri­ttsantrag stellen. Das gibt uns zumindest die Möglichkei­t, von der Türkei zu hören, welche Absichten sie hat. Griechenla­nd und die Türkei sind Nato-Mitglieder und haben trotzdem all diese Konflikte miteinande­r. Es ist Zeit für die Europäer, sich zu fragen, ob sie einen Verbündete­n in der Nato haben wollen, der Partnersta­aten Probleme bereitet.

 ?? [ Clemens Fabry ] ?? Zyperns Innenminis­ter Nicos Nouris fordert die EU-Kommission auf, den Turkish Airlines Sanktionen anzudrohen.
[ Clemens Fabry ] Zyperns Innenminis­ter Nicos Nouris fordert die EU-Kommission auf, den Turkish Airlines Sanktionen anzudrohen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria