Die Proteste im Iran flauen ab
Der Druck des Mullah-Regimes und die Hinrichtungen zeigen Wirkung. Die Demonstrationen sind stark zurückgegangen. Die Krise für die Führung ist aber noch nicht gelöst.
Die Proteste im Iran verlieren an Dynamik und Zulauf. Vier Monate nach Beginn der Protestwelle ziehen sich viele Demonstranten zurück; die Zahl der Protestkundgebungen ist seit dem Herbst stark gesunken. Regimevertreter erklären die Gefahr für die Islamische Republik bereits für gebannt. Der Druck des Regimes auf die Protestbewegung mit Polizeigewalt, Massenfestnahmen und Hinrichtungen zeige Wirkung, sagen Experten. Völlig unterdrücken lassen sich die Demonstrationen aber nicht, wie sich am Freitag zeigte.
Tausende Meldungen und Videos von Aktivisten im Iran zeichneten in den vergangenen Monaten das Bild eines Landes in Aufruhr. Demonstrationen zogen durch die Straßen vieler Städte, Studenten an den Universitäten und Arbeiter der Ölindustrie streikten. Das Regime schlug zurück und setzte die Polizei und die BasidschMiliz,
eine Schlägertruppe der Revolutionsgarde, gegen die Demonstranten ein.
Khamenei feiert Sieg
Die Gewalt zeigt Wirkung, wie Daten des Critical Threats Project (CTP) der US-Denkfabrik AEI zeigen. Das CTP trägt Informationen aus dem Iran zu einem Lagebild zusammen, das täglich aktualisiert wird. Unmittelbar nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Gewahrsam der Religionspolizei am 16. September registrierte das CTP an manchen Tagen große Demonstrationen in fast 50 Städten des Landes. Im Dezember wurden an den meisten Tagen aus weniger als zehn Städten Proteste gemeldet. Am Mittwoch dieser Woche zählte das CTP lediglich eine kleine Protestkundgebung im ganzen Land, am Donnerstag waren es zwei.
Revolutionsführer Ali Khamenei feiert das als Sieg. Die Feinde des Iran hätten sich verkalkuliert, sagte der 83-Jährige. Die Islamische Republik habe sich als stärker erwiesen. In seinen mehr als 30 Jahren an der Spitze des Staates hatte Khamenei zuletzt in den Jahren 2009 und 2019 landesweite Aufstände gegen das Regime niederschlagen lassen.
Der Iran-Experte Arif Keskin beobachtet die Entwicklung im Iran von der benachbarten Türkei aus und veröffentlicht auf Twitter viele Videoaufnahmen von Protesten. Auch Keskin hat festgestellt, dass die Zahl der Straßenproteste abnimmt. „Das Regime übt hohen Druck aus“, sagte er der „Presse“.
Mehr als 500 Todesopfer, fast 30.000 Festnahmen, Dutzende Todesurteile und vier Hinrichtungen von Demonstranten seien noch nicht alles, sagte Keskin. Wer bei den Protesten mitmache, riskiere seine Existenz: „Studenten fliegen von der Uni, Arbeiter werden entlassen, den Familien wird Angst gemacht.“Besonders die Hinrichtung junger Demonstranten war ein Schock für viele Iraner. „Jetzt lassen viele Eltern ihre Söhne und Töchter nicht mehr auf die Straße“, sagt Keskin. Internetsperren erschweren es den Regierungsgegnern, sich zu Protestkundgebungen zu verabreden.
Alleingelassen vom Westen
Hinzu kommt laut Keskin, dass sich viele Demonstranten vom Westen alleingelassen fühlen. „Sie hätten sich von Europa und den USA mehr erhofft.“Auch die Unterstützung vieler Basarhändler, die beim Sturz des Schah-Regimes 1979 eine wichtige Rolle spielten, blieb bisher aus. Auch die Händler stünden unter Druck des Regimes.
Manche Beobachter glauben ohnehin nicht daran, dass die Proteste das Regime stürzen können. Es gebe keine tiefen Risse im Sicherheitsapparat und keine schlagkräftige Organisation der Protestbewegung, argumentierte Sajjad Safaei vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in einem Beitrag für das Magazin „Foreign Policy“. Außerdem existiere in der Opposition kein Konsens darüber, was an die Stelle der Islamischen Republik treten solle.
Vor dem Aus?
Steht die Protestbewegung also vor dem Aus? Für diese Schlussfolgerung sei es zu früh, sagt Iran-Experte Keskin. Seit September verlaufen die Proteste wellenförmig, meint er. Derzeit sei nicht abzuschätzen, ob der Iran einen vorübergehenden Rückzug der Demonstranten oder eine dauerhafte Schwächung der Protestbewegung erlebe. Eins steht für Keskin aber fest: „Die Islamische Republik steckt in einer existenziellen Krise. Es gibt viele Probleme zwischen der Regierung und der Gesellschaft, und das Regime ist nicht in der Lage, diese zu lösen.“Die Proteste werden deshalb früher oder später wieder aufflammen, ist Keskin überzeugt. Neue Proteste am Freitag im Südosten bestätigten die Einschätzung.