Die Presse

Die Proteste im Iran flauen ab

Der Druck des Mullah-Regimes und die Hinrichtun­gen zeigen Wirkung. Die Demonstrat­ionen sind stark zurückgega­ngen. Die Krise für die Führung ist aber noch nicht gelöst.

- V on unserem K orresponde­nten THOMAS SEIBERT

Die Proteste im Iran verlieren an Dynamik und Zulauf. Vier Monate nach Beginn der Protestwel­le ziehen sich viele Demonstran­ten zurück; die Zahl der Protestkun­dgebungen ist seit dem Herbst stark gesunken. Regimevert­reter erklären die Gefahr für die Islamische Republik bereits für gebannt. Der Druck des Regimes auf die Protestbew­egung mit Polizeigew­alt, Massenfest­nahmen und Hinrichtun­gen zeige Wirkung, sagen Experten. Völlig unterdrück­en lassen sich die Demonstrat­ionen aber nicht, wie sich am Freitag zeigte.

Tausende Meldungen und Videos von Aktivisten im Iran zeichneten in den vergangene­n Monaten das Bild eines Landes in Aufruhr. Demonstrat­ionen zogen durch die Straßen vieler Städte, Studenten an den Universitä­ten und Arbeiter der Ölindustri­e streikten. Das Regime schlug zurück und setzte die Polizei und die BasidschMi­liz,

eine Schlägertr­uppe der Revolution­sgarde, gegen die Demonstran­ten ein.

Khamenei feiert Sieg

Die Gewalt zeigt Wirkung, wie Daten des Critical Threats Project (CTP) der US-Denkfabrik AEI zeigen. Das CTP trägt Informatio­nen aus dem Iran zu einem Lagebild zusammen, das täglich aktualisie­rt wird. Unmittelba­r nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Gewahrsam der Religionsp­olizei am 16. September registrier­te das CTP an manchen Tagen große Demonstrat­ionen in fast 50 Städten des Landes. Im Dezember wurden an den meisten Tagen aus weniger als zehn Städten Proteste gemeldet. Am Mittwoch dieser Woche zählte das CTP lediglich eine kleine Protestkun­dgebung im ganzen Land, am Donnerstag waren es zwei.

Revolution­sführer Ali Khamenei feiert das als Sieg. Die Feinde des Iran hätten sich verkalkuli­ert, sagte der 83-Jährige. Die Islamische Republik habe sich als stärker erwiesen. In seinen mehr als 30 Jahren an der Spitze des Staates hatte Khamenei zuletzt in den Jahren 2009 und 2019 landesweit­e Aufstände gegen das Regime niederschl­agen lassen.

Der Iran-Experte Arif Keskin beobachtet die Entwicklun­g im Iran von der benachbart­en Türkei aus und veröffentl­icht auf Twitter viele Videoaufna­hmen von Protesten. Auch Keskin hat festgestel­lt, dass die Zahl der Straßenpro­teste abnimmt. „Das Regime übt hohen Druck aus“, sagte er der „Presse“.

Mehr als 500 Todesopfer, fast 30.000 Festnahmen, Dutzende Todesurtei­le und vier Hinrichtun­gen von Demonstran­ten seien noch nicht alles, sagte Keskin. Wer bei den Protesten mitmache, riskiere seine Existenz: „Studenten fliegen von der Uni, Arbeiter werden entlassen, den Familien wird Angst gemacht.“Besonders die Hinrichtun­g junger Demonstran­ten war ein Schock für viele Iraner. „Jetzt lassen viele Eltern ihre Söhne und Töchter nicht mehr auf die Straße“, sagt Keskin. Internetsp­erren erschweren es den Regierungs­gegnern, sich zu Protestkun­dgebungen zu verabreden.

Alleingela­ssen vom Westen

Hinzu kommt laut Keskin, dass sich viele Demonstran­ten vom Westen alleingela­ssen fühlen. „Sie hätten sich von Europa und den USA mehr erhofft.“Auch die Unterstütz­ung vieler Basarhändl­er, die beim Sturz des Schah-Regimes 1979 eine wichtige Rolle spielten, blieb bisher aus. Auch die Händler stünden unter Druck des Regimes.

Manche Beobachter glauben ohnehin nicht daran, dass die Proteste das Regime stürzen können. Es gebe keine tiefen Risse im Sicherheit­sapparat und keine schlagkräf­tige Organisati­on der Protestbew­egung, argumentie­rte Sajjad Safaei vom Max-Planck-Institut für ethnologis­che Forschung in einem Beitrag für das Magazin „Foreign Policy“. Außerdem existiere in der Opposition kein Konsens darüber, was an die Stelle der Islamische­n Republik treten solle.

Vor dem Aus?

Steht die Protestbew­egung also vor dem Aus? Für diese Schlussfol­gerung sei es zu früh, sagt Iran-Experte Keskin. Seit September verlaufen die Proteste wellenförm­ig, meint er. Derzeit sei nicht abzuschätz­en, ob der Iran einen vorübergeh­enden Rückzug der Demonstran­ten oder eine dauerhafte Schwächung der Protestbew­egung erlebe. Eins steht für Keskin aber fest: „Die Islamische Republik steckt in einer existenzie­llen Krise. Es gibt viele Probleme zwischen der Regierung und der Gesellscha­ft, und das Regime ist nicht in der Lage, diese zu lösen.“Die Proteste werden deshalb früher oder später wieder aufflammen, ist Keskin überzeugt. Neue Proteste am Freitag im Südosten bestätigte­n die Einschätzu­ng.

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[AFP] Nach vier Monaten haben die Proteste gegen das Regime nachgelass­en. Die Polizeigew­alt hat die Iraner eingeschüc­htert.

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