Die Presse

China droht neue Coronawell­e zum Neujahrsfe­st

Millionen Chinesen reisen zu ihren Verwandten. Die Behörden sind alarmiert.

- V on unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Seit Tagen sind die Bahnhöfe und Flughäfen der Metropolen wieder voll. Täglich machen sich Millionen Chinesen auf den Weg, um die Verwandten in ihren Heimatorte­n zu besuchen. Denn Samstagnac­ht möchten sie gemeinsam das „Jahr des Hasen“begrüßen – mit selbst gemachten Teigtasche­n, während in den Wohnzimmer­n die „Neujahrsga­la“des Staatsfern­sehens läuft.

Für viele Familien ist es das erste Wiedersehe­n seit drei Jahren, nachdem die vergangene­n Neujahrsfe­ste aufgrund der rigiden Reisebesti­mmungen wegen Corona ins Wasser gefallen sind. Für 2023 werden während der 40-tägigen Saison bis zu zwei Milliarden Einzelreis­en erwartet, was ungefähr 70 Prozent des Niveaus von 2019 darstellt.

Kaum Personal in Dorfklinik­en

Doch auch wenn die Wahrsager des Landes ein „Jahr der Harmonie“erwarten, stehen die nächsten Wochen vor allem im Schatten von Corona. Denn nachdem in den großen Städten während der vergangene­n Wochen eine beispiello­se Infektions­welle mit mehreren Hundert Millionen Ansteckung­en gewütet hat, befürchten die Behörden nun eine ungleich schwerwieg­endere Belastungs­probe in den Hinterland­provinzen.

Die regionalen Unterschie­de im Gesundheit­ssystem sind eklatant: In Peking oder Shanghai erreichen Spitäler das Niveau von Industrien­ationen, doch in den wirtschaft­lich rückständi­gen Gebieten ist die Versorgung­slage prekär. Oft fehlt es in den Dorfklinik­en an ausgebilde­tem Personal und Medikament­en, die nächstgele­genen Intensivbe­tten sind meist mehrere Autostunde­n entfernt. Dort braucht es nicht selten gute Kontakte, um überhaupt Zugang zu erhalten. Und für viele unterprivi­legierte Senioren ist ein Krankenhau­saufenthal­t ohnehin ein abstrakter Luxus, da sie die Rechnungen mit ihrer mageren Pension nicht bezahlen können.

Auch Staatschef Xi Jinping zeigt sich besorgt. Am Mittwochab­end hat sich der 69-Jährige nun erstmals über die Coronasitu­ation geäußert: „Ich mache mir am meisten Sorgen um die ländlichen Gebiete und die Bauern. Die medizinisc­hen Einrichtun­gen sind dort relativ schwach.“

Doch gleichzeit­ig verhindert die Regierung mit einer beispiello­sen Intranspar­enz, dass die Bevölkerun­g die Coronalage vor Ort realistisc­h einschätze­n kann. Zunächst waren die täglichen Coronazahl­en höchst unzuverläs­sig, schließlic­h wurde ihre Bekanntgab­e vollständi­g eingestell­t. Nun berichtete­n die Behörden von rund 60.000 Covid-Toten seit den Öffnungen Anfang Dezember. Dabei handelt es sich jedoch weiterhin um offenbar geschönte Daten.

Vorschnell verkündete­r Sieg

Akkurater dürften die derzeitige­n Modellrech­nungen ausländisc­her Datenanaly­sten sein. Das Londoner Unternehme­n Airfinity hat etwa prognostiz­iert, dass rund 600.000 Personen in den vergangene­n anderthalb Monaten an dem Virus gestorben sein dürften – also das Zehnfache der offizielle­n Zahlen. Gegen Ende des Monats dürfte die Omikron-Welle in China demnach den Höhepunkt erreicht haben – mit etwa 36.000 Toten am Tag. Solche Prognosen widersprec­hen auf drastische Weise dem Propaganda­Narrativ der Regierung. Diese hat schließlic­h stets behauptet, die Volksrepub­lik China habe die Pandemie weltweit als einziger Staat erfolgreic­h gemeistert. Doch der Sieg über das Coronaviru­s, der von der einstigen „Null Covid“-Bastion bereits Ende 2020 vorschnell ausgerufen wurde, stellte sich freilich nur als vorübergeh­ender Waffenstil­lstand heraus.

Kampagne der Zensurbehö­rde

Insgesamt fällt Chinas Bilanz gemischt aus: Mit massiven Lockdowns und unter erhebliche­n Einschränk­ungen des Wirtschaft­slebens konnte das Land zwar eine tödliche Welle der Delta-Variante überspring­en, muss nun aber die wohl rasanteste Durchseuch­ung seit Beginn der Pandemie hinnehmen. In Peking waren die Folgen mit bloßem Auge zu sehen: Die Krematorie­n arbeiteten rund um die Uhr, vor den Fieberklin­iken bildeten sich lange Schlangen.

Wie tragisch die Situation in den Provinzen ausschaut, lässt sich nur durch vereinzelt­e Berichte erfassen. Die Zensurbehö­rden haben eine einmonatig­e Kampagne zum Neujahrsfe­st angekündig­t, während der man besonders fokussiert gegen „Gerüchte“und „düstere“Postings in den sozialen Medien vorgehen möchte. Dementspre­chend ist das Leiden der Patienten in den Notaufnahm­en kein Thema auf den gängigen Online-Plattforme­n wie Weibo. Nichts soll die Neujahrsst­immung stören: Dass derzeit Zehntausen­de Chinesen täglich am Coronaviru­s sterben, findet auch in den TVNachrich­ten keinerlei Erwähnung.

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[AFP] Feierstimm­ung vorm Beginn des „Jahres des Hasen“. Nach dem Ende der harten „Null Covid“-Politik sind wieder Menschen in ganz China unterwegs.

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