Opferanwältin klagt an: Schwere Ermittlungsfehler bei Missbrauch
Sexuelle Gewalt II. Auf 22 sichergestellten Datenträgern befanden sich mehr als drei Terabyte Foto- und Videomaterial. Wurden sie erst im September 2022 ausgewertet? War die Kenntnis mutmaßlicher Mittäter bereits kurz nach dem Ableben des Lehrers bekannt?
Ein defekter Speicherträger von den Ermittlungsbehörden, eine verloren gegangene Anzeige aus dem Jahr 2013 und widersprüchliche Aussagen zur Auswertung der Daten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen. In Summe sind das für Opferanwältin Herta Bauer „schwere Ermittlungsfehler der Behörden“.
Beim Sportlehrer, der von 2004 bis zu seinem Suizid 2019 nach einer eingegangenen Anzeige gegen ihn mindestens 40 unmündige Buben missbraucht haben dürfte, wurden bei der damaligen Hausdurchsuchung insgesamt 22 Datenträger sichergestellt: drei Notebooks, acht Festplatten, ein USB-Stick, eine Speicherkarte, fünf Digitalkameras sowie drei Mobiltelefone und ein Tablet. Das geht aus einem Akt hervor, der der „Presse“vorliegt. Insgesamt befanden sich darauf mehr als drei Terabyte Foto- und Videomaterial.
Was ist mit mutmaßlichen Mittätern?
Wie sich im Zuge der Erhebungen herausstellte, hatte der Pädagoge, der seit 1996 an einer Wiener Mittelschule mit Schwerpunkt Sport beschäftigt war, Fotos und Filmaufnahmen
seiner Schüler angefertigt. Teilweise hatten diese einen Missbrauch nicht mitbekommen, weil sie mutmaßlich mit K.-o.-Tropfen oder Ähnlichem betäubt worden waren.
Wenige Tage nach dem Suizid des Lehrers soll ein ehemaliger Schüler in der Schule aufgetaucht sein und – so die in der gegen ihn gerichteten Sachverhaltsdarstellung skizzierte Verdachtslage – dessen Spind geleert haben. Das bestätigen auch ehemalige Schüler, die einvernommen wurden. Für den Ex-Schüler gilt die Unschuldsvermutung.
In den Zeugenaussagen, die der „Presse“vorliegen, wird auch von unangebrachtem Verhalten dieses mutmaßlichen Mittäters berichtet. Er soll „uns immer überall angefasst“haben und „komische Kommentare zum Beispiel über unsere Figur gemacht“haben, so eine Zeugin.
Eine eingebrachte Sachverhaltsdarstellung des Opfervertreterteams rund um Rechtsanwältin Herta Bauer vom 30. November des Vorjahrs liegt seither bei der Staatsanwaltschaft. Man prüfe weiterhin, so die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Nina Bussek, auf Nachfrage der „Presse“.
„Ein Tippfehler“
Laut Bussek habe 2019 „in keinerlei Weise ein Verdacht“wegen möglicher Mittäter bestanden. Allerdings: In einem Akt aus dem Jahr 2019, über den die Opferanwältin verfügt, werden bereits zwei mögliche Mittäter mehrmals erwähnt. Warum ein dahingehender Verdacht erst vergangenes Jahr geprüft wurde, bleibt offen.
Nun geht aus einem anderen Akt weiters hervor, dass die Untersuchung und Sicherung
„der Mobiltelefone und des Tablet-PC“bereits „am 29. 7. 2019 abgeschlossen“war. Die Auswertung der weiteren Datenträger wurde allerdings erst drei Jahre später „am 13. 9. 2022 vollendet“– so ist es zumindest wörtlich in einem der Akten zu lesen. „Ein Tippfehler“, wie Staatsanwaltschaft-Sprecherin Bussek der „Presse“auf Nachfrage mitteilt. Es seien alle Daten bereits 2019 ausgewertet worden.
„Selbst ein Tippfehler wäre ein schweres Behördenversagen“, sagt Opferanwältin Herta Bauer. Dazu kommt: In einem anderen Schreiben des Landeskriminalamts (LKA) vom 5. Juni 2019 heißt es, dass „mit einer Sicherung der elektronischen Datenträger nicht vor ca. 1 1/2 Jahren gerechnet werden“kann. Ein Widerspruch zu Busseks Angaben.
Die Opferanwältin fragt sich, weshalb erst im Herbst 2022 neue Opfer und Zeugen befragt und identifiziert wurden. Ihre Vermutung: „Es besteht der Verdacht, dass die Behörden einfach gehofft haben, das Thema sei mit dem Tod des Lehrers erledigt. Und sich erst aufgrund der Medienberichte im vergangenen Jahr gezwungen sahen, das restliche Material ordnungsgemäß auszuwerten“, so Bauer. Für diese These
spreche auch der Umfang der Daten, sagt die Opferanwältin. Nachdem ihr Team mehrmals um Akteneinsicht für die von ihnen vertretenen Opfer bei der Staatsanwaltschaft gebeten hätte, sei ihr mitgeteilt worden, es gebe keine Daten mehr.
Als Nachweis dafür schickte die Staatsanwaltschaft im September 2022 eine Kopie des internen E-Mail-Verkehrs zwischen dieser und dem Landeskriminalamt. Das LKA schreibt darin: „Aufgrund Ihrer Anfrage habe ich beim Assistenzdienst um Übermittlung bzw. Bereitstellung der gesicherten Daten im Fall S. (Abkürzung des Namens des verstorbenen Lehrers, Anm.) ersucht. Soeben wurde mir von dort mitgeteilt, dass die Daten aufgrund einer Beschädigung des Sicherungsbandes nicht mehr wiederhergestellt werden können.“
Vernichtungsauftrag für Datenmaterial
Zusätzlich hatte es laut Bussek eigentlich 2019 einen Vernichtungsauftrag gegeben: „Wenn ein Verfahren abgeschlossen ist, lagert man solche sensiblen Daten nicht. Das ist nichts Außergewöhnliches.“Dennoch habe die Staatsanwaltschaft herausgefunden, dass „noch Kopien vorhanden sind. De facto ist alles noch da.“
Laut Herta Bauer habe die Staatsanwaltschaft hingegen gegenüber ihrer Kanzlei kommuniziert, dass die Daten nicht vorhanden sind.