Die Presse

Tauchgänge im feuchten Traum

Ein wilder Planet voller erigierter Tentakel und ejakuliere­nder Pflanzen: Am Schauplatz von Bertrand Mandicos Science-Fiction-Erotikon „After Blue“regiert nur die Lust.

- VON LUKAS FOERSTER

Was wäre, so fragt man sich irgendwann in Bertrand Mandicos „After Blue (Verschmutz­tes Paradies)“, wenn die Leinwand selbst feucht werden könnte? Wenn die Körper- und sonstigen Flüssigkei­ten, die in diesem Film in einem fort um die Figuren herum-, aus ihnen herausund zwischen ihnen hin und her fließen, plötzlich auch in den Kinosaal hineinschw­appten? Wenn also die nass-glamouröse, farbig pulsierend­e Welt im Bild auf unsere eigene Wirklichke­it, das sexualisie­rte Glitzern der Leiber auf der Leinwand auf unsere eigenen übergriffe?

„After Blue“spielt in einer archaische­n Zukunft, auf einem verwildert­en Planeten, den ausschließ­lich Frauen zu bewohnen in der Lage sind: Männer haben nicht überlebt, weil ihnen die Haare nach innen gewachsen sind. Fortpflanz­ung ist dennoch möglich, dank „guten Spermas“von der Erde. Oder so ähnlich. Eine detaillier­t erklärte Zukunftsvi­sion sollte man sich von diesem Film ebenso wenig erwarten wie eine kohärent auserzählt­e Handlung. Dabei ist deren Ausgangspu­nkt vergleichs­weise simpel – und scheint eine Art Weltraum-Western anzukündig­en: Die blonde, androgyne Roxy (Paula Luna) hat aus Versehen eine Kriminelle namens Kate Bush (!) befreit. Und zieht nun gemeinsam mit ihrer Mutter, Zora, los, um sie wieder einzufange­n. Bald sehen sich Mutter und Tochter, Jäger und Gejagte (sowie eine Reihe weiterer mysteriöse­r Figuren) in ein Netz aus Träumen, Visionen und Sexfantasi­en verstrickt, aus dem sie sich nicht mehr befreien können. Oder auch nur wollen.

Geschlecht­ergrenzen? Irrelevant!

Das ist die einzige Sicherheit, die der Film seinen Figuren (und uns) bietet: Alles ist mit allem verknüpft. Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichke­it haben ebenso wenig Geltung wie die zwischen Körper und Welt. Oder auch die zwischen Körper und Körper. Und gänzlich irrelevant ist – das war schon in Mandicos gefeiertem Vorgängerf­ilm „Wild Boys“eine Kernprämis­se – die Grenze zwischen den Geschlecht­ern. Menschen mit Penissen gibt es zwar keine auf dem wilden Planeten. Dafür aber, nur als Beispiel, erigierte Tentakel und ejakuliere­nde Pflanzen. Auch ein „drittes Auge“, das manchen Frauen zwischen den Beinen wächst – und einen neuen, genitalen Blick hervorbrin­gt. Oder einen Cyborg, der „weder ein Mann, noch eine Frau, sondern ein Louis Vuitton“sein will.

Zweifellos ist „After Blue“von Diskursen der Gender- und Queer-Theory beeinfluss­t: Geschlecht als Performanc­e, Sexualität als Erfahrung von Andersheit und Ich-Verlust. Nur, dass Mandico solche Themen nicht in nüchternem Thesenkino stillstell­t, sondern zur rauschhaft­en Feier der Differenz entgrenzt. Und dabei glückliche­rweise auch auf den sogenannte­n guten Geschmack pfeift.

Zu den Demarkatio­nslinien, die er mit lustvollem Ehrgeiz überwindet, gehört nicht zuletzt die zwischen Kunst und Kitsch: Mit edler Hochglanz-Science-Fiction hat „After Blue“nicht das Geringste zu tun. Kongenial unterstütz­t von Pierre Desprats’ sphärische­m wie psychedeli­schem Elektrosou­ndtrack erschafft Mandico eine durch und durch hybride Welt, die trashigen Fantasy-Fernsehser­ien der 1990er-Jahre ästhetisch näher ist als Hollywood-Bombast der Gegenwart. Das verschmutz­te Paradies ist handgemach­t – liebevoll geformt aus Pappmaché, Kunstnebel und jeder Menge farbigem Licht. Es strahlt, bei aller polymorph-perversen Sexualisie­rung, eine bemerkensw­erte Naivität aus.

Nicht verschwieg­en werden soll, dass einem die 130 Minuten Laufzeit des Films trotz allem ziemlich lang vorkommen können. Ob man in Mandicos Traum versinken oder ihn und seine Flüssigkei­ten lieber von sich fernhalten will, ist vielleicht auch von der Tagesform abhängig. In jedem Fall sollte man sich „After Blue“, wenn irgend möglich, im Kino anschauen, am besten in einer der vorderen Reihen, ganz nah an der Leinwand. Wer weiß – vielleicht erweist sich am Ende auch diese Grenze als durchlässi­g.

 ?? [ Filmgarten ] ?? Die Figuren in Bertrand Mandicos „After Blue“verstricke­n sich in Visionen und Sexfantasi­en, aus denen sie sich nicht befreien können – oder auch nur wollen.
[ Filmgarten ] Die Figuren in Bertrand Mandicos „After Blue“verstricke­n sich in Visionen und Sexfantasi­en, aus denen sie sich nicht befreien können – oder auch nur wollen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria