Tauchgänge im feuchten Traum
Ein wilder Planet voller erigierter Tentakel und ejakulierender Pflanzen: Am Schauplatz von Bertrand Mandicos Science-Fiction-Erotikon „After Blue“regiert nur die Lust.
Was wäre, so fragt man sich irgendwann in Bertrand Mandicos „After Blue (Verschmutztes Paradies)“, wenn die Leinwand selbst feucht werden könnte? Wenn die Körper- und sonstigen Flüssigkeiten, die in diesem Film in einem fort um die Figuren herum-, aus ihnen herausund zwischen ihnen hin und her fließen, plötzlich auch in den Kinosaal hineinschwappten? Wenn also die nass-glamouröse, farbig pulsierende Welt im Bild auf unsere eigene Wirklichkeit, das sexualisierte Glitzern der Leiber auf der Leinwand auf unsere eigenen übergriffe?
„After Blue“spielt in einer archaischen Zukunft, auf einem verwilderten Planeten, den ausschließlich Frauen zu bewohnen in der Lage sind: Männer haben nicht überlebt, weil ihnen die Haare nach innen gewachsen sind. Fortpflanzung ist dennoch möglich, dank „guten Spermas“von der Erde. Oder so ähnlich. Eine detailliert erklärte Zukunftsvision sollte man sich von diesem Film ebenso wenig erwarten wie eine kohärent auserzählte Handlung. Dabei ist deren Ausgangspunkt vergleichsweise simpel – und scheint eine Art Weltraum-Western anzukündigen: Die blonde, androgyne Roxy (Paula Luna) hat aus Versehen eine Kriminelle namens Kate Bush (!) befreit. Und zieht nun gemeinsam mit ihrer Mutter, Zora, los, um sie wieder einzufangen. Bald sehen sich Mutter und Tochter, Jäger und Gejagte (sowie eine Reihe weiterer mysteriöser Figuren) in ein Netz aus Träumen, Visionen und Sexfantasien verstrickt, aus dem sie sich nicht mehr befreien können. Oder auch nur wollen.
Geschlechtergrenzen? Irrelevant!
Das ist die einzige Sicherheit, die der Film seinen Figuren (und uns) bietet: Alles ist mit allem verknüpft. Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit haben ebenso wenig Geltung wie die zwischen Körper und Welt. Oder auch die zwischen Körper und Körper. Und gänzlich irrelevant ist – das war schon in Mandicos gefeiertem Vorgängerfilm „Wild Boys“eine Kernprämisse – die Grenze zwischen den Geschlechtern. Menschen mit Penissen gibt es zwar keine auf dem wilden Planeten. Dafür aber, nur als Beispiel, erigierte Tentakel und ejakulierende Pflanzen. Auch ein „drittes Auge“, das manchen Frauen zwischen den Beinen wächst – und einen neuen, genitalen Blick hervorbringt. Oder einen Cyborg, der „weder ein Mann, noch eine Frau, sondern ein Louis Vuitton“sein will.
Zweifellos ist „After Blue“von Diskursen der Gender- und Queer-Theory beeinflusst: Geschlecht als Performance, Sexualität als Erfahrung von Andersheit und Ich-Verlust. Nur, dass Mandico solche Themen nicht in nüchternem Thesenkino stillstellt, sondern zur rauschhaften Feier der Differenz entgrenzt. Und dabei glücklicherweise auch auf den sogenannten guten Geschmack pfeift.
Zu den Demarkationslinien, die er mit lustvollem Ehrgeiz überwindet, gehört nicht zuletzt die zwischen Kunst und Kitsch: Mit edler Hochglanz-Science-Fiction hat „After Blue“nicht das Geringste zu tun. Kongenial unterstützt von Pierre Desprats’ sphärischem wie psychedelischem Elektrosoundtrack erschafft Mandico eine durch und durch hybride Welt, die trashigen Fantasy-Fernsehserien der 1990er-Jahre ästhetisch näher ist als Hollywood-Bombast der Gegenwart. Das verschmutzte Paradies ist handgemacht – liebevoll geformt aus Pappmaché, Kunstnebel und jeder Menge farbigem Licht. Es strahlt, bei aller polymorph-perversen Sexualisierung, eine bemerkenswerte Naivität aus.
Nicht verschwiegen werden soll, dass einem die 130 Minuten Laufzeit des Films trotz allem ziemlich lang vorkommen können. Ob man in Mandicos Traum versinken oder ihn und seine Flüssigkeiten lieber von sich fernhalten will, ist vielleicht auch von der Tagesform abhängig. In jedem Fall sollte man sich „After Blue“, wenn irgend möglich, im Kino anschauen, am besten in einer der vorderen Reihen, ganz nah an der Leinwand. Wer weiß – vielleicht erweist sich am Ende auch diese Grenze als durchlässig.