Stalingrad und die Nachwelt
Es war die Schlacht schlechthin. Das apokalyptische Geschehen von Stalingrad 1942/43 wurde nach Kriegsende in Film und Literatur vielfach gedeutet. Bis heute.
Militärisch war die grauenhafte Schlacht von Stalingrad mit der deutschen Kapitulation am 2. Februar 1943 zu Ende. Ein rechtzeitiger Abzug war der eingekesselten 6. Armee durch Befehl Hitlers verweigert worden. Nun begann der lange Weg, den das Geschehen mit insgesamt 700.000 Opfern im Gedächtnis der Menschen nahm, die Geschichte der Verarbeitung, der medialen Darstellung und der ideologischen Deutung. Aus dem Kriegserlebnis wurde die Kriegserinnerung. Kaum ein Kampfgeschehen war derart geeignet, Reflexionen über Befehl und bessere Einsicht, Gewissen und Gehorsam, Entscheidung und Verantwortung anzustellen. Wie in einem Brennglas spiegelten sich die vielfältigen Mechanismen eines Kriegs.
Feldpostbriefe wurden veröffentlicht, Romane geschrieben, Filme gedreht, Musik komponiert. Kaum ein Geschehen des Zweiten Weltkriegs rief eine solche Lawine von Bewältigungsversuchen hervor, vor allem, aber nicht nur im Nachkriegsdeutschland. Das Einvernehmen über den Stellenwert dieser Schlacht war so groß, dass man von einem universellen Erinnerungsort sprechen kann. Gerade Stalingrad ist ein Beispiel dafür, dass Kriegserinnerung nicht nur nationalgeschichtlich definiert werden muss.
Zuletzt war es Wladimir Putin, der im Mai 2022 Bezüge zur Gegenwart herstellte. „Die Verteidigung des Vaterlandes, als über sein Schicksal entschieden wurde, war immer heilig“, sagte er und nahm Bezug auf die Schlachten gegen Napoleon (Borodino) bis zu Hitlers Angriffskrieg (Stalingrad). Dass er auch das Kiew und Charkow von 1941 erwähnte, war eine bewusste Doppeldeutigkeit und Zeugnis seiner geschichtsverdrehenden Rechtfertigungspolitik. Er sieht sein Land heute wieder im Kampf gegen den Faschismus.
Mythisierung als „deutscher Opfergang“
Stalingrad wurde zum Mythos. Einmal wurde die Schlacht als „deutscher Opfergang“gedeutet, einmal als „Wendepunkt des Krieges“, was bekanntlich nicht stimmte. Stalingrad war nicht mehr nur ein Ort, wo Kämpfe stattfanden, sondern wurde zum Inbegriff der Schrecklichkeit des Kriegs. Forscher der Akademie der Wissenschaften, Stefan Schmidl und Werner Telesko, haben nun eine Studie vorgelegt, die den Fokus auf die Bewältigungsversuche dieser Schlacht in Film und Literatur legt.
Wie im Propagandafilm der Kriegszeit wird auch in der Nachkriegszeit, mit den Mitteln der populären Form des Melodrams, eine emotionale Brücke zum Zuschauer geschlagen. Darf man das? Ist das eine adäquate Auseinandersetzung mit dem Krieg? Durch das Herausstellen der Gefühlsebene das grausame Geschehen ins Emotionale transferieren? Personalisieren? Das mag manchen fragwürdig erscheinen, kann aber, so die Autoren, „schlichtweg einen gangbaren Weg darstellen, um die Ereignisse überhaupt adäquat verarbeiten zu können“.
Telesko und Schmidl untersuchen in der schmalen, aber dicht geschriebenen Studie, wie Bild, Text und Musik zusammenwirken, um die klassische deutsche bzw. europäische Heldenerzählung wiederzubeleben. Das ging in der medialen Darstellung nicht immer ohne brutale Instrumentalisierung und historische Verkürzung ab, etwa in den Vergleichen mit der antiken Schlacht an den Thermopylen als Beispiel des Durchhaltewillens oder der Geschichte vom Untergang der Nibelungen.
Ist Krieg überhaupt medial darstellbar? Die Frage stellt sich angesichts des UkraineKriegs wieder neu. Oder wird uns immer nur gezeigt, wie wir den Krieg sehen sollen? Millionen Deutsche hörten zu Weihnachten 1942 eine Radiosendung mit Grußbotschaften der Soldaten von allen, auch den entlegensten Fronten, vom Hafen am Eismeer bis Tunis, von Stalingrad bis Kreta. Die „Weihnachtsringsendung“gipfelte im Absingen von „Stille Nacht“. Es war die perfekte Propaganda, ein Hörspiel zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls zwischen Front und Heimat sollte maximale Authentizität vorspiegeln. Die Hörer glaubten zu wissen, wie es an den Fronten wirklich zuging. Auch der Kriegsfilm stellte sich eine ähnliche Aufgabe.
Die erste Wochenschau, in der Stalingrad ein Thema war, lief am 16. September 1942. Deutsche Soldaten, mit strengem und unerschütterlichem Blick, werden in individueller Aktion gezeigt, untermalt von dem damals typischen musikalischen Branding, Wagners „Walkürenritt“und Liszts „Les Préludes“als Triumphalmotiv für den Russland-Feldzug. „Ideologisierung durch Musik“nennen das die Autoren, auch im Moment der Kapitulation. Die Meldung kam am 3. Februar 1943 und wurde begleitet von dumpfen Trommelwirbeln aus dem zweiten Satz von Beethovens Fünfter, der Schicksalssymphonie: „Unter der Hakenkreuzfahne, die auf der höchsten Ruine von Stalingrad weithin sichtbar gehisst wurde, vollzog sich der letzte Kampf.“Der Untergang der 6. Armee wurde als „heiliges Selbstopfer“mythisiert: „Sie starben, damit Deutschland lebe.“„Mit heiligem Schauer“werde man noch nach tausend Jahren das Wort Stalingrad aussprechen, so Hermann Göring.
Stalingrad-Film gab es in der NS-Zeit keinen. Aber ab 1960 entstanden populärgeschichtliche Machwerke wie der Bestseller „Unternehmen Barbarossa“von Paul Carell und die apologetisch angelegten Erinnerungen der Generäle Friedrich Paulus und Erich von Manstein. Zugleich blühte die Veteranenkultur. Im Kalten Krieg mit der Sowjetunion konnte der Krieg im Osten nachträglich leichter legitimiert werden.
„Hunde, wollt ihr ewig leben?“
Der damals populärste Stalingrad-Film, „Hunde, wollt ihr ewig leben?“(1959) bezog seinen Titel aus einem legendären Zitat, das Friedrich II. von Preußen nachgesagt wurde, der so seine Grenadiere in die Schlacht getrieben haben soll. Der dialogreiche Film ist eine mehr als fragwürdige Verschränkung von neu gedrehten Szenen und Sequenzen aus Wochenschauen und Dokumentationen. Das Filmplakat wirkte wie aus der NSPropagandaabteilung entnommen, die Musik stammte von einem der führenden Filmkomponisten des Dritten Reiches.
Es gibt in Filmen wie diesen kein Bemühen um die Rekonstruktion von Tatsachen, sondern sie leisteten Rechtfertigungsarbeit. Im Mittelpunkt steht die pathetisch ausgetragene Auseinandersetzung mit dem Typus des Offiziers und dem Missbrauch seiner alten preußischen Gehorsamstugend, sodass er zum Vollstrecker unmenschlicher Befehlen aus dem Führerhauptquartier wird. Er ist Opfer einer verbrecherischen Weltanschauung. Es geht also um die Rehabilitierung der Wehrmacht. Sie ist frei von Intriganten, Fanatikern und Bösewichten, die findet man nur in der NS-Elite.
Noch stärker wird die Opferrolle der deutschen Protagonisten in dem Filmmelodram „Der Arzt von Stalingrad“thematisiert. Hier geht es nicht um die Schlacht selbst, sondern um das Schicksal der Heimkehrer aus sowjetischer Gefangenschaft.
Auch in den Trivialromanen der 1950erJahre, z. B. bei Heinz G. Konsalik, gibt es ein festes Muster: das Gegenüber von Gut und Böse, verkörpert in den schablonenhaft geschnitzten uniformierten Personen, eisernen Helden, denen die eisige Kälte Russlands nichts antun konnte. Sie wurden im Kino dargestellt von den populären Filmstars der Zeit wie Joachim Fuchsberger, Curd Jürgens oder Hardy Krüger. Das erleichterte die Identifizierung der Zuseher.
Bis in die Gegenwart herauf wurde diese Tradition der älteren Stalingrad-Filme fortgesetzt: Joseph Vilsmaiers Stalingrad-Helden sind junge, idealistische und letztlich überforderte Soldaten vor dem Hintergrund eines verbrecherischen Regimes. Mit den russischen Verfilmungen der neueren Zeit entstand eine befremdliche Melange: Der zentrale patriotische Mythos der Sowjetzeit wurde mit den Methoden von heutigen Hollywood-Blockbustern vermengt.