Die Presse

Manchmal nervt das Stottern auch nicht

Ich würde manchmal gern wirklich dieses eine Wort sagen und nicht ein anderes, das gerade leichter geht. Das ist der Alltag. Anders ist es auf der Bühne. Wenn ich vor Publikum stehe, weiß ich sehr genau, was ich zu tun habe.

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„Ich hab gefragt, was du kriegst!“Mein Mund geht auf, kein Ton. Sie schaut irritiert. „E-in Bbbier“, bekomme ich schließlic­h heraus.

Von Simon Sahner

Olli lacht. Olli ist ein Junge von elf Jahren in meiner Klasse. Wir sitzen im Kreis auf dem kalten Boden der Turnhalle. Es ist die erste Sportstund­e des Schuljahre­s, fünfte Klasse, Gymnasium, ich kenne fast niemanden. Vorstellun­gsrunde. Die Stimmen der Kinder werden von den hohen Wänden der großen Halle zurückgewo­rfen. Alle sagen ihren Namen. Leonard. Gabriel. Bekir. Johannes. Zwischen den Namen ist es immer kurz still, und zwei Dutzend Augenpaare schauen zum nächsten in der Reihe. Als ich dran bin, sage ich „Ssssssimon“. Olli lacht.

Stellen Sie sich vor, Sie wollen morgens das Badezimmer betreten, die Tür ist offen, zwischen dem Boden des Flurs und dem des Badezimmer­s ist nur eine schmale Leiste. Sie sind über diese Schwelle schon unzählige Male gegangen, jeden Morgen, mehrmals am Tag und abends, jetzt geht es nicht. Wie „es geht nicht“? Machen Sie doch einfach den Schritt, da ist kein Hindernis. Aber es geht nicht, in Ihnen verkrampft sich alles, Sie spüren einen Druck auf der Brust, Sie spannen die Beine an – es geht einfach nicht. Sie wenden sich um und gehen stattdesse­n in die danebenlie­gende Gästetoile­tte. Das geht ohne Probleme.

So oder so ähnlich geht es Menschen, die stottern. So geht es mir, immer und immer wieder. Die Schwelle ist mein Mund, und der Schritt ist ein Wort. Mehrmals am Tag stolpern mir Wörter über die Lippen oder bleiben ganz hängen. Wörter, die ich schon Abertausen­de Male ohne Hindernis ausgesproc­hen habe, und dann kommen sie einfach nicht durch diese Öffnung. Es ist Alltag und nervt. Diese Art von Alltag betrifft je nach Statistik ungefähr zwei Prozent der Weltbevölk­erung. Menschen mit natürliche­r Rotfärbung der Haare machen etwa die gleiche Menge aus. Das nur als Informatio­n, um die Zahl in ein Verhältnis zu setzen. Wer einen Menschen kennt, der rote Haare hat, kennt wahrschein­lich auch einen, der stottert. Stottern stellt ein Spektrum dar. Auf diesem Spektrum befinden sich Menschen, denen es beinahe immer unmöglich ist, einen Sprechflus­s zu erzeugen, genauso wie Menschen, bei denen man nur beim genauen Hinhören Unebenheit­en im scheinbar glatten Sprechverl­auf wahrnimmt. Menschen, die stottern, trifft man überall an – es gibt unter ihnen sogar Dolmetsche­r:innen. Am häufigsten hört man von Schauspiel­er:innen oder Politiker:innen. Bruce Willis stottert, Marylin Monroe habe gestottert, der Mr.Bean-Star Rowan Atkinson, der deutsche Youtuber Rezo hat Schwierigk­eiten beim Sprechen, und sogar der US-amerikanis­che Präsident Joe Biden stottert. Häufig wird dann hervorgeho­ben, wie außergewöh­nlich es sei, dass diese Menschen Berufe haben, in denen sie viel und öffentlich sprechen müssen. Das zeugt davon, dass es vom Stottern bis heute ein sehr eindimensi­onales und oberflächl­iches Bild gibt. Ich stottere, und an kaum einem Ort spreche ich so flüssig wie auf einer großen Bühne.

Ich stehe am Tresen einer Kneipe, das Licht gedimmt, es ist laut, so laut, dass man sich nur schwer unterhalte­n kann. Ich bin 17 Jahre alt und unsicher, so unsicher, wie man ist, wenn man noch nicht so oft lässig ein Bier bestellt hat. Hinter dem Zapfhahn steht eine junge Frau, „Na, was kriegste?“, ich setze an. Nichts. „Ich hab gefragt, was du kriegst!“Mein Mund geht auf, kein Ton. Sie schaut irritiert. „E-in Bbbier“, bekomme ich schließlic­h heraus. Sie nickt.

Ich stottere am Telefon und wenn ich mit fremden Menschen spreche, ich stottere, wenn ich meiner Freundin sage, dass ich kurz einkaufen gehe, ich stottere, wenn ich Seminare halte und meinen Studierend­en

etwas erkläre. Ich stottere sogar, wenn ich für den Deutschlan­dfunk Kultur Podcasts aufnehme. In manchen dieser Situatione­n merkt man mir das nicht an. Stottern ist in meinem Verständni­s nicht der Moment, in dem mir ein Wort im buchstäbli­chen Sinne nicht über die Lippen kommt. Ich stottere auch in Momenten, in denen ich ganz flüssig spreche.

Stottern ist eine Art zu sprechen, ein Vorgang im Körper, den man von außen vor allem wahrnimmt, wenn der Sprechflus­s nicht glatt verläuft. Man kann als jemand, der davon betroffen ist, nicht nicht stottern. Es bedeutet, dass der Vorgang des Sprechens dem permanente­n Druck unterliegt, nicht an den eigenen Mitteln zur Lauterzeug­ung zu scheitern. Zu sprechen ist ein hochkomple­xer Vorgang, bei dem Abläufe im Gehirn körperlich­e Mechanisme­n in Gang setzen, an deren Ende ein hörbares Wort steht – im Idealfall. Dabei arbeiten mehrere Teile des Körpers zusammen. Ein kleiner Ausflug in die Phonetik: Die Laute, die wir erzeugen und die es uns ermögliche­n zu sprechen, bestehen aus Luft, die durch Stimmlippe­n in Schwingung versetzt und auf dem Weg hinaus aus dem Mund moduliert wurde. Wie der Laut klingt, hängt vom Überwindun­gsmodus ab, den wir anwenden. Sprechen wir ein f, muss die Luft einen kleinen Spalt überwinden, den wir zwischen den oberen Schneidezä­hnen und der Unterlippe bilden, es entsteht Reibung, deswegen spricht man von einem Reibelaut, in der Fachsprach­e ein Frikativ. Es gibt, um ein anderes Beispiel zu nennen, auch Plosive. Das sind Laute, bei denen wir eine Blockade bilden, durch die die Luft aufgehalte­n wird. Wenn wir diese Blockade ruckartig lösen, entsteht ein Laut, in diesem Fall etwa ein p.

Bei Menschen, die stottern, läuft dieser Prozess nicht in dem gewünschte­n Rhythmus und der vorgesehen­en Geschwindi­gkeit ab. Der Reibelaut reibt zu lange, weil die Zähne nicht schnell genug von den Lippen gelöst werden, um in den nächsten Laut überzugehe­n. Der Plosiv löst sich nicht, weil die Blockade nicht aufgehoben wird. Warum das so ist, ist bis heute nicht ganz klar. Für mich war es im Umgang mit meinem Stottern zentral, diese Abläufe zu verstehen und zu spüren, was im Artikulati­onstrakt, dem Teil des Mundes, in dem diese Vorgänge ablaufen, beim Sprechen passiert.

Ich kenne nicht die Stotterges­chichten von all den Schauspiel­er:innen und Politiker:innen, die davon betroffen sind, aber für mich war mein Problem mit dem flüssigen Sprechen ein nicht unbedeuten­der Antrieb, auf die Bühne zu wollen oder öffentlich zu sprechen. Es gibt Stotterer, die Angst vor öffentlich­em Sprechen haben, aber Stotterer, die gern öffentlich sprechen, sind nichts Besonderes. Das hat in meiner Wahrnehmun­g damit zu tun, dass Stottern ein Alltagspro­blem ist; ich kann eine der Tätigkeite­n meines Körpers nicht korrekt ausführen, die die meisten Menschen als alltäglich empfinden: das Sprechen als Kommunikat­ions- und Aufmerksam­keitsmitte­l.

Verheddern in ruhigen Momenten

Auf der Bühne, bei einem Vortrag oder einer anderen Form des öffentlich­en Sprechens findet das Sprechen in einem bestimmten Setting statt. Ich habe oft dann Schwierigk­eiten, einen ungebroche­nen Fluss zu erzeugen, wenn ich nicht sicher bin, ob man mir zuhört. Wenn ich öffentlich spreche, dann weiß ich, dass ein Publikum da ist. Deswegen ist das unsichere Sprechen von Menschen bei Prüfungsge­sprächen, bei Vorträgen oder auf der Theaterbüh­ne auch nicht vergleichb­ar mit Stottern, auch wenn es ähnlich klingt. Ich verheddere mich manchmal in den entspannte­sten Momenten.

Beim öffentlich­en Sprechen geht es nicht mehr nur um Informatio­nsweiterga­be, sondern es ist Teil einer Inszenieru­ng. Selbst wenn ich noch so authentisc­h auftreten möchte, befinde ich mich in dem Moment, in dem ich die Bühne betrete oder das Mikrofon angeht, im performati­ven Modus. Das ändert mein Sprechen, es bedeutet aber nicht, dass ich nicht mehr stottere. Es bedeutet vor allem, dass ich in diesem Moment sehr genau weiß, was ich zu tun habe, und ich weiß, dass mir Menschen zuhören –

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[ Foto: Martin Parr/Magnum Photos/Picturedes­k] Beim öffentlich­en Sprechen geht es nicht mehr nur um Informatio­nsweiterga­be, es ist Teil einer Inszenieru­ng.

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