Simon Sahner: Manchmal nervt das Stottern auch nicht
Fortsetzung von Seite I
mich beruhigt das, weil ich nicht um Aufmerksamkeit kämpfen muss.
Ich stehe im Licht. Um mich herum ist es dunkel. Schemenhaft erkenne ich vor mir Stuhlreihen mit Menschen. Sie schauen mich an. Es ist der Sommer 2008, und es ist die Premiere des English Drama Club an meiner Schule; die Vorstellung beginnt mit einem Monolog von mir. Unzählige Male habe ich die Sätze, die jetzt kommen müssen, gesprochen. Ich habe sie laut geschrien, geflüstert, weggesprochen und auf dem Fahrrad vor mich hin gesagt. Jetzt gilt es. Ich setze an. Es geht.
Für mich bedeutet Stottern auch, dass ich kurz, bevor ich beginne zu sprechen, spüre, dass ich meine Oberschenkelmuskulatur anspanne, um einen Gegendruck an einer anderen Stelle im Körper zu erzeugen, um die Blockade zu überwinden. Stottern ist auch das automatische Ändern der Satzstruktur, wenn ich merke, dass ein Wort nicht kommen wird. Es ist die unbewusste Entscheidung, im Vortrag „Lyrik“zu sagen, weil „Gedichte“gerade nicht geht. Es ist die innere Frustration darüber, dass ich nicht genau das sagen konnte, was ich sagen wollte, mit genau den Wörtern, die ich verwenden will. Es ist die kurze Anspannung vor wichtigen Telefonaten und die Enttäuschung, nicht so lässig zu klingen, wie ich es gerne würde. Aber Stottern ist auch der Adrenalinkick, wenn man von der Bühne geht und kein einziges Mal hörbar hängen geblieben ist. Und Stottern sind die kleinen Stolperer, die Vokalverlängerungen, die kurzen Hänger, die ich im Alltag nicht mehr wahrnehme, und die Menschen, die mich kennen, einfach ignorieren. Stottern ist immer.
Und weil Stottern immer ist, ist es eine komplexe Herausforderung, Menschen, die stottern, zu erzählen und darzustellen. Denn Stottern in Filmen ist meist ein Zeichen für Außergewöhnliches, in positiver wie in negativer Weise. Der unsichere Professor Quirrell im Film „Harry Potter und der Stein der Weisen“, der Lord Voldemort in seinem Körper beherbergt, stottert. Der junge Mann in dem Film „Zwielicht“, gespielt von Edward Norton, der vorgibt, eine gespaltene Persönlichkeit zu haben, um mit einem Mord davonzukommen, stottert. Bill Denbrough, die Hauptfigur aus Stephen Kings „Es“, stottert und ist Anführer des „Klubs der Verlierer“, und DJ, der Trickdieb aus dem Star-WarsFilm „Die letzten Jedi“, stottert leicht.
Manche dieser Figuren sind hinterhältig, andere werden durch ihr fehlerhaftes Sprechen als mental eingeschränkt dargestellt, andere werden zu Helden, DJ ist lässig und cool. Sein Stottern ist eine Eigenart, die sein extravagantes Auftreten vollendet. Die leisen Dopplungen, die kurzen Hänger, die der Schauspieler Benicio del Toro in sein gebrummtes Nuscheln einbaut, geben der Figur eine weitere Kante. Kanten machen Figuren interessant, Eigenarten machen sie liebenswert, und wir freuen uns, wenn der unsichere, stotternde Nerd am Ende doch Freunde findet. Keine dieser Figuren spiegelt mich wider.
Ich bin Anfang zwanzig und studiere. Wohne nicht mehr bei meinen Eltern. Sie machen sich Sorgen, nicht weil ich allein lebe, nicht weil ich vielleicht zu viel feiere. Sie machen sich Sorgen, dass mich mein Stottern in meiner Zukunft einschränken wird. Ich habe verschiedene Therapieversuche hinter mir, so richtig geholfen hat keiner. Ich rede trotzdem, ich spiele Theater, mache Poetry Slam, melde mich in Seminaren, lerne Leute kennen. Trotzdem wage ich noch einen Versuch, halb meinen Eltern zuliebe, halb, weil ich denke, vielleicht hilft es ja doch noch. Nach zwei Sitzungen bei dem Logopäden fragt er mich, ob ich in seine Theatergruppe kommen will. Nach ein paar Wochen breche ich die Therapie ab. Ich spiele nun seit zehn Jahren in der Gruppe. Ich habe nie wieder über eine Therapie nachgedacht.
Teil meiner Identität
Für mich ist mein Stottern die Medaille mit den berühmten zwei Seiten. Es ist Teil meiner Identität, weil ich ohne das Stottern nicht dieselbe Person wäre. Vielleicht würde ich so weit gehen zu sagen, dass ein Teil meines Selbstbewusstseins und meiner Freude daran, öffentlich zu sprechen, damit zu tun hat, dass ich mir meines Sprechens bewusst werden musste, weil mein Stottern mich gezwungen hat, an mir zu arbeiten und ich diese Arbeit zeigen wollte. Genauso wünsche ich mir aber, dass ich nicht vor einer Podcastaufnahme hoffen muss, dass diesmal alles glattgeht, dass ich in einen guten Fluss komme. Und ich würde manchmal gern wirklich dieses eine Wort sagen und nicht ein anderes, das gerade leichter geht. Das nervt. Was auch nervt, ist, dass meine Mutter recht hatte. Es nervt immer, wenn Mütter recht behalten. Als ich in meinen düsteren Teenagerjahren war, hat sie einmal gesagt, ich würde irgendwann eine Freundin finden, die mein Stottern liebt. Meine Freundin grinst, wenn ich stottere, und freut sich ganz offen und ehrlich. Manchmal nervt das Stottern auch nicht.
Ich habe viele Therapieversuche hinter mir, so richtig geholfen hat keiner. Ich rede trotzdem, ich spiele Theater, mache Poetry Slam.