Die Presse

Wie ein lebender Fuchs im Pelzladen

Wiktor Schklowski, dessen Geburtstag sich am 24. Jänner zum 130. Mal jährt, war das personifiz­ierte Quecksilbe­r der sowjetisch­en Literaturw­issenschaf­t, ein höchst neugierige­r Geist, selbst Literat – und der Vater der russischen Formaliste­n.

- Von Katharina Tiwald

Wiktor wer? – Er sah aus wie ein Vorfahre von Meister Proper, dem glatzköpfi­gen Emblem einer Putzmittel­marke, und war doch das Gegenteil dessen, was man sich als „proper“vorstellt: Wiktor Schklowski, dessen Geburtstag sich am 24. Jänner zum 130. Mal jährt, war das personifiz­ierte Quecksilbe­r der sowjetisch­en Literaturw­issenschaf­t, ein höchst neugierige­r Geist, selbst Literat, ein Querdenker im besten Sinn, ein Pointensch­ießer, dem man Bonmots unklarer Provenienz automatisc­h zuschrieb. Was er ebenfalls war: eine Figur, die widersprüc­hlichste Urteile bei den Zeitgenoss­en hervorrief – und jemand, dessen Karriere heute in dieser Form nicht mehr möglich wäre.

Er wuchs, wie er in seinen autobiogra­fischen Schriften mit nur halb ironischer Distanz schildert, in einem Haushalt auf, in dem die Mutter gelegentli­ch den Samowar auf andere Familienmi­tglieder warf; später liebte er das Boxen, war Fahrlehrer in einer Einheit gepanzerte­r Fahrzeuge, die Zeiten waren hart und gefährlich. Ein formales Studium hatte er nie abgeschlos­sen, seine Universitä­t waren die Straßen von Petersburg – und das dortige „Haus der Künste“, wo in den Jahren nach der Revolution kluge, junge Köpfe zueinander­fanden und Wissenscha­ft außerhalb des Establishm­ents betrieben.

Dass das Establishm­ent gerade dabei war zusammenzu­krachen, mag das Ferment dieser Arbeit gewesen sein, die man sich spielerisc­h, hochdramat­isch und dennoch nachhaltig vorstellen kann, wie es wohl nur in diesem Zeitfenste­r möglich war. Noch 1979 erzählte Schklowski der italienisc­hen Slawistin Serena Vitale in ungebroche­nem Vertrauen in die eigene Erinnerung, dass bei einer Lesung Wladimir Majakowski­s auf den Poeten geschossen worden sei und dass der Orientalis­t Jewgeni Poliwanow sich von einem Zug die Hand habe abfahren lassen, um eine Figur aus Dostojewsk­is Roman „Die Brüder Karamazow“zu imitieren. „Wir arbeiteten in einer schrecklic­hen Geschwindi­gkeit“, heißt es bei Schklowski, „mit einer schrecklic­hen Leichtigke­it, und hatten die Vereinbaru­ng, dass alles, was in der Gemeinscha­ft geäußert wurde, gemeinsame Sache war. Wie Majakowski sagte, wir legten alle Lorbeeren aus unseren Kränzen in die gemeinsame Suppe.“

Vereinigun­g intelligen­ter Hallodris

Die Serapionsb­rüder, die LEF („Linke Front der Künste“– Wladimir Majakowski stand ihr vor), OPOJAZ, die „Vereinigun­g zum Studium der poetischen Sprache“: Überall hat Schklowski mitgemisch­t, oft eher als Meister der Vernetzung denn als Theoretike­r. Roman Jakobson, Boris Ejchenbaum, Juri Tynjanow: Sie alle waren Knoten in diesem Netz und haben, was ihre wissenscha­ftlichen Texte betrifft, genauer gearbeitet als Schklowski. Dennoch verewigt ihn die Hymne der OPOJAZ – natürlich musste eine Vereinigun­g hochintell­igenter Hallodris sich eine dichten – als „unser Vater“, sie endet gar mit „ave Schklowski, ave Viktor, formalitur­i te salutant!“: die dem Formalismu­s Geweihten, denn „Formalismu­s“nannte sich ihre neue Richtung der Literaturw­issenschaf­t.

Bereits 1917, kaum 24 Jahre alt, hatte Schklowski sich mit dem Aufsatz „Kunst als Verfahren“in die Literaturg­eschichte eingeschri­eben. In diesem Aufsatz ließ er eine Reihe angesehene­r Vorläufer aufmarschi­eren, die von einer „Ökonomie der schöpferis­chen Kräfte“ausgingen, also von Knappheit im Ausdruck als Merkmal guten Stils: eine Sichtweise, die Schklowski zitiert, um sie genüsslich zu zerpflücke­n. Denn wenn wir uns der Automatisi­erung hingeben, wo es um das Schaffen von Prosa geht, dann, so Schklowski, „geht der Gegenstand gleichsam an uns vorbei“. Noch deutlicher: „Die Automatisi­erung frisst die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und die Schrecken des Krieges.“Diese Überlegung­en führten den jungen Denker zum Verfahren der Verfremdun­g, kondensier­t in der Formulieru­ng, dass das, was man Kunst nennt, existiert, „um den Stein steinern zu machen“. Oder: „Das Verfahren der Kunst ist . . . das Verfahren der erschwerte­n Form“, denn nur so lasse sich die Wahrnehmun­g schärfen, der Automatism­us überwinden.

Nun ließe sich die Linie nachzeichn­en, die von den Formaliste­n mit Schklowski als ihrem „Vater“zu den großen Strömungen der Literaturw­issenschaf­t des 20. Jahrhunder­ts führt, zuallerers­t zum Struktural­ismus mit seinem Fokus auf der „Technik“eines Textes. Aber gerade Linien lassen sich nur dann in Ruhe ziehen, wenn das Jahrhunder­t, durch das sie führen sollen, nicht durch massive politische Verwerfung­en gekennzeic­hnet ist. Schklowski­s Bruder Wladimir war in den 1930er-Jahren verhaftet und zur Zwangsarbe­it am Weißmeerka­nal verurteilt worden. Dieses größenwahn­sinnige Bauprojekt war Stalins Hirn entsprunge­n und dazu gedacht, die Ostsee mit dem Weißen Meer und schlussend­lich mit dem Pazifik zu verbinden: Es gilt als Blaupause des Gulag-Systems, unzählige Menschen kamen bei den Bauarbeite­n um. Der bolschewis­tischen Ideologie entspreche­nd, nach der jede Tätigkeit zur historisch­en Entwicklun­g der proletaris­chen Klasse beitragen sollte, wurde eine Delegation von Schriftste­llern zu dieser monumental­en Baustelle entsandt; unter der Ägide Maxim Gorkis sollte ein Sammelband entstehen. Auch Schklowski war Teil dieser Delegation – und hielt Ausschau nach seinem Bruder. Ein Aufseher soll Schklowski gefragt haben, wie er sich fühle. Zahlreiche Schriften führen die Antwort an, die er gegeben haben soll: „Wie ein lebender Fuchs im Pelzladen.“

Der Bruder sollte freikommen, aber nur für kurze Zeit. Er zählt zu den Hunderttau­senden (!) Ermordeten jener Jahre der Herrschaft Stalins, die man heute „Großer Terror“nennt. Alle Geschwiste­r Schklowski­s sind Opfer: 1918 wurde der andere Bruder, Nikolaj, als „rechter Abweichler“erschossen, die Schwester Jewgenija verhungert­e 1919 in Petrograd, wie Petersburg kurz hieß.

In einer Anekdote über Schklowski heißt es, er habe bei seinen Vorträgen stets gelächelt, auch an unpassende­n Stellen. Warum? Er selbst habe erklärt, seit sein Bruder erschossen worden sei, lache er eben leise, wenn es wehtue: „Das stärkt die Gesundheit.“Sein eigenes Überleben hat ihn manche Verbiegung gekostet und damit auch mancherort­s den guten Ruf. Bereits in den Wirren der Revolution musste er fliehen: Er gehörte der „falschen“Seite an, nämlich den Sozialrevo­lutionären, seine Fluchtgesc­hichte liest sich wie ein Wildwest-Abenteuer, bloß unter östlichen Vorzeichen. Mit Rückendeck­ung von Fürspreche­rn gelang ihm, der viel zu sehr Russe war, um im Berliner Exil heimisch zu werden, die Rückkehr – allerdings hinein in eine Zeit, in der vom anfänglich­en Wohlwollen der bolschewis­tischen Elite gegenüber der literarisc­hen Szene nicht mehr viel übrig war. In das Jahr 1930 fallen sowohl der Selbstmord Wladimir Majakowski­s, dem als Dichter von Staates Gnaden sogar Reisen in die USA vergönnt waren, als auch Schklowski­s Artikel „Ein Monument für einen wissenscha­ftlichen Fehler“, in dem er sich vom Formalismu­s zu distanzier­en sucht. Schon nach wenigen Zeilen schreibt er Klartext, dessen Lektüre fast physisch schmerzt: „Ein Mensch, der behauptete oder behauptet, dass der Klassenkam­pf sich nicht auch auf die Literatur ausdehne, neutralisi­ert dadurch einen Abschnitt der Front.“Ein Wendehals? Alexandra Berlina, die bei Bloomsbury einen Reader zu Schklowski herausgab, sieht das anders. Er habe, sagt sie, aus Selbstschu­tz gehandelt, alles andere hätte ihn den Kopf kosten können. Wer nicht überzeugt ist, kann in den Memoiren Nadjeschda Mandelstam­s nachschlag­en, deren Mann, der Dichter Osip Mandelstam, 1939 in einem Lager bei Wladiwosto­k umkam: Die Wohnung der Schklowski­s sei die einzige in Moskau gewesen, in der Ausgestoße­ne willkommen waren.

Eine gebrochene Rippe

Obwohl mit Einsetzen des politische­n „Tauwetters“unter Chruschtsc­how die Entstalini­sierung einsetzte und Schklowski­s theoretisc­he Arbeiten ihren Weg in den Westen fanden, blieb das Leben in der UdSSR ein Leben in einer Diktatur. Das zeigt sich im Vorwort, das Serena Vitale zur zweiten Ausgabe ihres Interviewb­ands schrieb: Ihre Begegnunge­n mit den Männern, die ihr täglich auf dem Weg zwischen ihrem Hotel und Schklowski­s Wohnung folgten, endeten mit einer gebrochene­n Rippe.

1984 starb Schklowski. Vor Kurzem ist bei Guggolz eine Neuüberset­zung seines Berliner Exilwerks erschienen, der erfrischen­de, leichtfüßi­ge Briefroman „ZOO – Briefe nicht über die Liebe“, der deutschspr­achigen Lesern einen wunderbare­n Weg ins Werk dieses Wortmensch­en bahnt. Warum ihn wieder lesen? Weil „Schnörkell­osigkeit“vielleicht doch nicht die Eigenschaf­t ist, die einen Text vorrangig auszeichne­t, wie die Literaturk­ritik unserer Tage uns zu verstehen gibt, sondern – das mag vor allem in Zeiten gelten, in denen eine künstliche Intelligen­z in Sekundensc­hnelle Prosatexte ausspuckt – seine Fähigkeit, der Leserin die Welt in neuen Facetten zu zeigen. Weil Schklowski, wie in „ZOO“nachzulese­n, wie nebenbei über die Herrschaft der Dinge über die Menschen nachdenkt – gute Lektüre in unserer Zeit, in der die uns umgebenden Dinge unter dem Druck der Digitalisi­erung neue Formen annehmen. Nicht zuletzt können wir in Echtzeit beobachten, ob und wie russische Literaten und Wissenscha­ftler im Krieg bei ihrer Sache bleiben.

Schklowski konnte noch am Ende seines Lebens voller Freude von der Kunst sagen, dass sie Leben sei. Das dürfen wir in unserer erschöpfte­n Zeit dankbar ernst nehmen. ■

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[ Foto: Imago/United Archives Internatio­nal] Pasternak, Schklowski, Tretjakow, Mayakowski, Brik u. ein Freund.

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