Wie ein lebender Fuchs im Pelzladen
Wiktor Schklowski, dessen Geburtstag sich am 24. Jänner zum 130. Mal jährt, war das personifizierte Quecksilber der sowjetischen Literaturwissenschaft, ein höchst neugieriger Geist, selbst Literat – und der Vater der russischen Formalisten.
Wiktor wer? – Er sah aus wie ein Vorfahre von Meister Proper, dem glatzköpfigen Emblem einer Putzmittelmarke, und war doch das Gegenteil dessen, was man sich als „proper“vorstellt: Wiktor Schklowski, dessen Geburtstag sich am 24. Jänner zum 130. Mal jährt, war das personifizierte Quecksilber der sowjetischen Literaturwissenschaft, ein höchst neugieriger Geist, selbst Literat, ein Querdenker im besten Sinn, ein Pointenschießer, dem man Bonmots unklarer Provenienz automatisch zuschrieb. Was er ebenfalls war: eine Figur, die widersprüchlichste Urteile bei den Zeitgenossen hervorrief – und jemand, dessen Karriere heute in dieser Form nicht mehr möglich wäre.
Er wuchs, wie er in seinen autobiografischen Schriften mit nur halb ironischer Distanz schildert, in einem Haushalt auf, in dem die Mutter gelegentlich den Samowar auf andere Familienmitglieder warf; später liebte er das Boxen, war Fahrlehrer in einer Einheit gepanzerter Fahrzeuge, die Zeiten waren hart und gefährlich. Ein formales Studium hatte er nie abgeschlossen, seine Universität waren die Straßen von Petersburg – und das dortige „Haus der Künste“, wo in den Jahren nach der Revolution kluge, junge Köpfe zueinanderfanden und Wissenschaft außerhalb des Establishments betrieben.
Dass das Establishment gerade dabei war zusammenzukrachen, mag das Ferment dieser Arbeit gewesen sein, die man sich spielerisch, hochdramatisch und dennoch nachhaltig vorstellen kann, wie es wohl nur in diesem Zeitfenster möglich war. Noch 1979 erzählte Schklowski der italienischen Slawistin Serena Vitale in ungebrochenem Vertrauen in die eigene Erinnerung, dass bei einer Lesung Wladimir Majakowskis auf den Poeten geschossen worden sei und dass der Orientalist Jewgeni Poliwanow sich von einem Zug die Hand habe abfahren lassen, um eine Figur aus Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamazow“zu imitieren. „Wir arbeiteten in einer schrecklichen Geschwindigkeit“, heißt es bei Schklowski, „mit einer schrecklichen Leichtigkeit, und hatten die Vereinbarung, dass alles, was in der Gemeinschaft geäußert wurde, gemeinsame Sache war. Wie Majakowski sagte, wir legten alle Lorbeeren aus unseren Kränzen in die gemeinsame Suppe.“
Vereinigung intelligenter Hallodris
Die Serapionsbrüder, die LEF („Linke Front der Künste“– Wladimir Majakowski stand ihr vor), OPOJAZ, die „Vereinigung zum Studium der poetischen Sprache“: Überall hat Schklowski mitgemischt, oft eher als Meister der Vernetzung denn als Theoretiker. Roman Jakobson, Boris Ejchenbaum, Juri Tynjanow: Sie alle waren Knoten in diesem Netz und haben, was ihre wissenschaftlichen Texte betrifft, genauer gearbeitet als Schklowski. Dennoch verewigt ihn die Hymne der OPOJAZ – natürlich musste eine Vereinigung hochintelligenter Hallodris sich eine dichten – als „unser Vater“, sie endet gar mit „ave Schklowski, ave Viktor, formalituri te salutant!“: die dem Formalismus Geweihten, denn „Formalismus“nannte sich ihre neue Richtung der Literaturwissenschaft.
Bereits 1917, kaum 24 Jahre alt, hatte Schklowski sich mit dem Aufsatz „Kunst als Verfahren“in die Literaturgeschichte eingeschrieben. In diesem Aufsatz ließ er eine Reihe angesehener Vorläufer aufmarschieren, die von einer „Ökonomie der schöpferischen Kräfte“ausgingen, also von Knappheit im Ausdruck als Merkmal guten Stils: eine Sichtweise, die Schklowski zitiert, um sie genüsslich zu zerpflücken. Denn wenn wir uns der Automatisierung hingeben, wo es um das Schaffen von Prosa geht, dann, so Schklowski, „geht der Gegenstand gleichsam an uns vorbei“. Noch deutlicher: „Die Automatisierung frisst die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und die Schrecken des Krieges.“Diese Überlegungen führten den jungen Denker zum Verfahren der Verfremdung, kondensiert in der Formulierung, dass das, was man Kunst nennt, existiert, „um den Stein steinern zu machen“. Oder: „Das Verfahren der Kunst ist . . . das Verfahren der erschwerten Form“, denn nur so lasse sich die Wahrnehmung schärfen, der Automatismus überwinden.
Nun ließe sich die Linie nachzeichnen, die von den Formalisten mit Schklowski als ihrem „Vater“zu den großen Strömungen der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts führt, zuallererst zum Strukturalismus mit seinem Fokus auf der „Technik“eines Textes. Aber gerade Linien lassen sich nur dann in Ruhe ziehen, wenn das Jahrhundert, durch das sie führen sollen, nicht durch massive politische Verwerfungen gekennzeichnet ist. Schklowskis Bruder Wladimir war in den 1930er-Jahren verhaftet und zur Zwangsarbeit am Weißmeerkanal verurteilt worden. Dieses größenwahnsinnige Bauprojekt war Stalins Hirn entsprungen und dazu gedacht, die Ostsee mit dem Weißen Meer und schlussendlich mit dem Pazifik zu verbinden: Es gilt als Blaupause des Gulag-Systems, unzählige Menschen kamen bei den Bauarbeiten um. Der bolschewistischen Ideologie entsprechend, nach der jede Tätigkeit zur historischen Entwicklung der proletarischen Klasse beitragen sollte, wurde eine Delegation von Schriftstellern zu dieser monumentalen Baustelle entsandt; unter der Ägide Maxim Gorkis sollte ein Sammelband entstehen. Auch Schklowski war Teil dieser Delegation – und hielt Ausschau nach seinem Bruder. Ein Aufseher soll Schklowski gefragt haben, wie er sich fühle. Zahlreiche Schriften führen die Antwort an, die er gegeben haben soll: „Wie ein lebender Fuchs im Pelzladen.“
Der Bruder sollte freikommen, aber nur für kurze Zeit. Er zählt zu den Hunderttausenden (!) Ermordeten jener Jahre der Herrschaft Stalins, die man heute „Großer Terror“nennt. Alle Geschwister Schklowskis sind Opfer: 1918 wurde der andere Bruder, Nikolaj, als „rechter Abweichler“erschossen, die Schwester Jewgenija verhungerte 1919 in Petrograd, wie Petersburg kurz hieß.
In einer Anekdote über Schklowski heißt es, er habe bei seinen Vorträgen stets gelächelt, auch an unpassenden Stellen. Warum? Er selbst habe erklärt, seit sein Bruder erschossen worden sei, lache er eben leise, wenn es wehtue: „Das stärkt die Gesundheit.“Sein eigenes Überleben hat ihn manche Verbiegung gekostet und damit auch mancherorts den guten Ruf. Bereits in den Wirren der Revolution musste er fliehen: Er gehörte der „falschen“Seite an, nämlich den Sozialrevolutionären, seine Fluchtgeschichte liest sich wie ein Wildwest-Abenteuer, bloß unter östlichen Vorzeichen. Mit Rückendeckung von Fürsprechern gelang ihm, der viel zu sehr Russe war, um im Berliner Exil heimisch zu werden, die Rückkehr – allerdings hinein in eine Zeit, in der vom anfänglichen Wohlwollen der bolschewistischen Elite gegenüber der literarischen Szene nicht mehr viel übrig war. In das Jahr 1930 fallen sowohl der Selbstmord Wladimir Majakowskis, dem als Dichter von Staates Gnaden sogar Reisen in die USA vergönnt waren, als auch Schklowskis Artikel „Ein Monument für einen wissenschaftlichen Fehler“, in dem er sich vom Formalismus zu distanzieren sucht. Schon nach wenigen Zeilen schreibt er Klartext, dessen Lektüre fast physisch schmerzt: „Ein Mensch, der behauptete oder behauptet, dass der Klassenkampf sich nicht auch auf die Literatur ausdehne, neutralisiert dadurch einen Abschnitt der Front.“Ein Wendehals? Alexandra Berlina, die bei Bloomsbury einen Reader zu Schklowski herausgab, sieht das anders. Er habe, sagt sie, aus Selbstschutz gehandelt, alles andere hätte ihn den Kopf kosten können. Wer nicht überzeugt ist, kann in den Memoiren Nadjeschda Mandelstams nachschlagen, deren Mann, der Dichter Osip Mandelstam, 1939 in einem Lager bei Wladiwostok umkam: Die Wohnung der Schklowskis sei die einzige in Moskau gewesen, in der Ausgestoßene willkommen waren.
Eine gebrochene Rippe
Obwohl mit Einsetzen des politischen „Tauwetters“unter Chruschtschow die Entstalinisierung einsetzte und Schklowskis theoretische Arbeiten ihren Weg in den Westen fanden, blieb das Leben in der UdSSR ein Leben in einer Diktatur. Das zeigt sich im Vorwort, das Serena Vitale zur zweiten Ausgabe ihres Interviewbands schrieb: Ihre Begegnungen mit den Männern, die ihr täglich auf dem Weg zwischen ihrem Hotel und Schklowskis Wohnung folgten, endeten mit einer gebrochenen Rippe.
1984 starb Schklowski. Vor Kurzem ist bei Guggolz eine Neuübersetzung seines Berliner Exilwerks erschienen, der erfrischende, leichtfüßige Briefroman „ZOO – Briefe nicht über die Liebe“, der deutschsprachigen Lesern einen wunderbaren Weg ins Werk dieses Wortmenschen bahnt. Warum ihn wieder lesen? Weil „Schnörkellosigkeit“vielleicht doch nicht die Eigenschaft ist, die einen Text vorrangig auszeichnet, wie die Literaturkritik unserer Tage uns zu verstehen gibt, sondern – das mag vor allem in Zeiten gelten, in denen eine künstliche Intelligenz in Sekundenschnelle Prosatexte ausspuckt – seine Fähigkeit, der Leserin die Welt in neuen Facetten zu zeigen. Weil Schklowski, wie in „ZOO“nachzulesen, wie nebenbei über die Herrschaft der Dinge über die Menschen nachdenkt – gute Lektüre in unserer Zeit, in der die uns umgebenden Dinge unter dem Druck der Digitalisierung neue Formen annehmen. Nicht zuletzt können wir in Echtzeit beobachten, ob und wie russische Literaten und Wissenschaftler im Krieg bei ihrer Sache bleiben.
Schklowski konnte noch am Ende seines Lebens voller Freude von der Kunst sagen, dass sie Leben sei. Das dürfen wir in unserer erschöpften Zeit dankbar ernst nehmen. ■