Vom Eissalon Riviera zum Mützen-Laden
Einen Querschnitt von Aufzeichnungen aus mehreren Jahrzehnten bietet „Der Traum des Beobachters“von Wilhelm Genazino.
Das Geheimnis eines Schriftstellerlebens zu ergründen, das ist der Antrieb, all die Journale, Tagebücher, Notate, Arbeitsberichte, Skizzen und wie man sie noch benennen möchte, von Autorinnen und Autoren zu veröffentlichen und zu lesen. Diese Art von Notizen ziehen uns magisch an, denn vielleicht finden sich darin die Ingredienzien, mit denen die Literatur einer schreibenden Person auf rätselhafte Weise gebraut wird.
Nun ist „Der Traum des Beobachters“von Wilhelm Genazino erschienen, ein Querschnitt von Werk- und anderen Aufzeichnungen, von ersten Romanideen bis zu detaillierter ausgearbeiteten Prosa- und Dramavorstufen, aphoristischen Betrachtungen und Fantasien aus den Jahren 1972 bis 2018, herausgegeben von Jan Bürger und Friedhelm Marx – ein „Materialcontainer, in dem sich Leben und Fiktion, Ideen und Träume unauflöslich vermischen“, so die Beschreibung des Verlags. Auch aufgeklebte Zeitungsausschnitte, Theaterzettel, Prospekte, Gutscheine und vieles mehr, versehen mit handschriftlichen Bemerkungen und Verweisen, illustrieren die akribische Archivierungsarbeit des Autors. Kurz gesagt, die Herausgeber destillierten aus einem 38 Aktenordner umfassenden „Werktagebuch“, das Teil des im Marbacher Literaturarchiv aufbewahrten Nachlasses ist, eine quasi über 450 Seiten starke Genazino-Essenz aus bisher unveröffentlichten Texten (nur einige wenige wurden schon publiziert), die man streng chronologisch oder aber einfach kreuz und quer durchschmökern kann.
Die Schwäche des Gedächtnisses
Genazino, der im Dezember 2018 verstorben ist, war ein unermüdlicher Aufschreiber, Beobachter (auch seiner selbst) und Flaneur, den man auf seinen imaginären Spazier- und Gedankengängen liebend gern begleitet, denn man wird mit erhellenden Erkenntnissen und lakonisch-witzigen Einträgen beschenkt, etwa mit der Beobachtung, dass sich im Winter die italienischen Eissalons in Frankfurt am Main – wie übrigens auch in Wien einige – in Hauben- und Schalgeschäfte verwandeln: „Oben steht noch ,Eis-Café Riviera‘, aber im Schaufenster sitzen lauter kopflose Pelzmützen.“
Mit dem systematischen Verfassen dieses Werktagebuchs begann er 1972, also mit 29 Jahren, als sich „eines Tages die Schwäche meines Gedächtnisses zeigte. Mein Bedürfnis, die Zuckungen des Alltags mit meinem Bewußtsein zu synchronisieren, wollte mir nicht mehr vollständig gelingen. (. . . ) Sobald ich einen Ausflug in die Realität hinter mir hatte, eilte ich schnell nach Hause und schrieb (nach Gedächtnislage) auf, was ich für aufbewahrenswert hielt. (. . .) Die Angst, daß mich eines Tages das Schreiben selbst verlassen würde. Dann würde ich nur noch zu Hause sitzen, ratlos, berufslos, ohne Geld, bald ohne Wohnung und bald auch ohne einen einzigen Menschen, der es mit meiner Verlassenheit aufnehmen würde.“
Diese Angst stellte sich in der Nachbetrachtung als unbegründet heraus, fünf Jahre später erschien schon der erste Teil der „Abschaffel“-Trilogie, der von der Kritik gefeiert wurde. ■