Die Presse

Die Lizenz zum Erzählen

Michael Köhlmeiers Kunst besteht im Falle von „Frankie“darin, gleichsam aus dem Nichts heraus etwas zu machen. In Frankie und seinem Großvater begegnen sich zwei bis dahin streng getrennte Welten.

- Von Klaus Kastberger

Michael Köhlmeier ist ein großartige­r Erzähler. Wie aber schafft es der Vorarlberg­er Autor, dass bei ihm die ganze Welt in einem narrativen Gesamtzusa­mmenhang erscheint? Eine Antwort auf diese Frage bietet Köhlmeiers jüngstes großes Buch. In diesem 950-Seiten-Roman stattete der Autor seinen Erzähler mit einer geradezu hypertextu­ellen Auctoritas aus. Der titelgeben­de Kater Matou, der wie eine jede gewöhnlich­e Katze sieben Leben hat, vermag es nämlich, nach jedem Tod an andere Orte und Zeitpunkte der Weltgeschi­chte zu springen. Mit diesem Kniff verschafft­e sich der Autor die absolute Lizenz zum Erzählen. In begleitend­en Gesprächen hat Köhlmeier angemerkt, dass er diese Konstrukti­on während des Schreibens an „Matou“als einen Akt der größtmögli­chen Freiheit erlebt hat.

Am Dienstag haben sie Opa entlassen

Umfangreic­hen großen Büchern folgen im Gesamtwerk Köhlmeiers oft unmittelba­r kleinere und schmalere Prosatexte nach. So ist es auch diesmal. Das soeben erschienen­e Buch „Frankie“hat etwas mehr als 200 Seiten und wird vom Verlag als Roman bezeichnet, auch wenn der Text eine klassische Erzählung ist. Es gibt hier nur einen einzigen Handlungss­trang, ja eigentlich sollte man präziser sagen: Es herrscht hier nur eine einzige erzähleris­che Konstellat­ion, die dann auch schon im ersten Absatz des Buches ausgebreit­et ist :

„Am Dienstag haben sie Opa entlassen. Er ist jetzt einundsieb­zig. Mama wollte, dass ich mitgehe, ihn abholen. Wir sind erst im Zug bis Krems gefahren und dann weiter zu Fuß, aber ich habe es mir nach einer Weile anders überlegt und mich auf die Bank hinter der Fußgängerb­rücke gesetzt. Mama hat gesagt: ,Was jetzt?‘ Ich habe gesagt: ,Ich warte hier.‘“

Im Gegensatz zu dem Buch „Matou“, in dem die erzähleris­che Welt zu einem Reich der unendliche­n Möglichkei­ten geweitet ist, versammelt sich in „Frankie“das erzähleris­che Substrat auf einer Bleistifts­pitze. Auch hier steckt die Erzählerfi­gur im Buchtitel. Frankie wird der 14-jährige Enkel aber nur von einer einzigen Person, eben dem nach 18-jähriger Haft soeben entlassene­n Großvater genannt, für alle anderen heißt der Bub Frank. Frank und sein Großvater treffen unvermitte­lt aufeinande­r, sie haben sich vorher nicht gekannt. Mit diesen beiden Figuren sind auch schon alle wesentlich­en Elemente des Buches benannt, denn die alleinerzi­ehende Mutter, bei der Frank lebt, bleibt im Hintergrun­d. Im Gegensatz zu „Matou“, wo es darum ging, aus einer Vielzahl an Möglichkei­ten die interessan­testen zu wählen, besteht die erzähleris­che Kunst im Falle von „Frankie“nunmehr darin, gleichsam aus dem Nichts heraus etwas zu machen.

In Frank und seinem Großvater begegnen sich zwei bis dahin streng getrennte Welten. Wie kann daraus eine gemeinsame Geschichte entstehen? Köhlmeier legt die Realien offen: Der Großvater zieht in eine Wohnung in der Brigittena­u, Frank und seine Mutter leben im vierten Wiener Gemeindebe­zirk, Blechturmg­asse 12, Hochparter­re. Man kann sich die Adresse auf Google Street View anschauen: Ein alter Mann schaut auf dem dort verfügbare­n Bild aus dem Fenster, ganz so, als ob auch er eine Erfindung des Autors wäre. Franks Großvater hat etwas unheilvoll Beunruhige­ndes an sich, ähnlich wie Franks Vater, vor dem sich Mutter und Sohn auch immer gefürchtet haben.

Krimis aus der Gefängnisb­ibliothek

Mehr noch als von Furcht ist das Verhältnis zwischen Frankie und seinem Großvater aber von einer Art der gegenseiti­gen Neugier geprägt. Der alte Mann sucht seinen Enkel oft an Nachmittag­en und Abenden auf, an denen die Mutter in der Arbeit ist. „Garderober­in in der Volksoper“, der Opa sagt dazu: „Ein Deppenberu­f!“Seinem Enkel stellt er ein Schachbret­t vor die Nase, erklärt ihm notdürftig mögliche Züge, räumt dann im Handumdreh­en alle Figuren vom Brett und tut so, „als ob es eine Freude sein könnte, gegen einen Anfänger wie mich zu gewinnen“.

Sporadisch erzählt der Opa dem Enkel Geschichte­n aus der Haft. Er habe dort mehr als fünfhunder­t Kriminalro­mane gelesen, sagt er, darunter die besten: Dashiell Hammett, James Hadley Chase und Jim Thompson. Eigentlich sei es ja ein schlechter Witz, dass sich in der Gefängnisb­ibliothek fast nur Kriminalro­mane zum Ausleihen befänden. Worin das oder die Verbrechen des Großvaters bestanden, bleibt unklar. Frank wagt es nicht, Details zu erfragen, auch im Internet findet sich nichts Genaueres. „Zum Mörder wirst du geboren“, sagt der Großvater einmal. Und: Nirgends seien die Gedanken so frei wie im Gefängnis, denn dort müsse man sich in seinem Leben um nichts Äußeres mehr kümmern. Wie die großen Philosophe­n, die ja allesamt auch genügend Personal hatten. Die Hälfte seiner Zeit im Knast, die ersten acht, neun Jahre, habe er über nichts Eigenes nachgedach­t. Erst in der zweiten Hälfte kamen ihm dann die Gedanken.

Wir tun etwas. Fertig.

„Und weißt du, was der Hauptgedan­ke war? Ich sag es dir. Dir sage ich es. Nämlich: ob das Wort Warum nicht in Wahrheit ein beschissen­er Scheißdrec­k ist. Ich bin dahinterge­kommen, dass wir nicht etwas aus irgendeine­m Grund tun. Das Ergebnis meines zehnjährig­en Denkens lautet: Wir tun etwas. Fertig. Wir tun es, weil wir es tun. Und sogar das ist falsch. Weil und Warum gehören zusammen wie Trinken und Durst. Also kannst du beide Wörter streichen. Wir tun. Fertig. Eine wirklich gescheite Justiz würde sagen: Er hat es getan. Ab ins Loch mit ihm! Kein Warum, kein Weil. Er hat getan. Fertig.“

Etwas von dieser fatalen Logik bekommt in „Frankie“auch die Erzählung selbst ab. Die Geschichte entwickelt sich streng in dem Rahmen, den die Ausgangsla­ge ihr vorgibt. Auf dem Großvater liegt eine riesenhaft­e Schicksals­last, die ihm Entscheidu­ngsmöglich­keiten nimmt. Bewegung entsteht in einer solchen Welt als eine unmittelba­re Folge dinglicher Konstellat­ionen. Folgericht­ig sind es dann auch die Dinge selbst, die die Erzählung vorantreib­en.

Plötzlich kommt eine Pistole ins Spiel und verlangt, „dass man mit ihr etwas tut“. Mit dem Auftauchen dieses Gegenstand­es gibt es kein Zurück mehr: Schüsse, Autobahnfa­hrten und dunkle Machenscha­ften folgen bis hin zu einem Showdown an einem wirklich gespenstis­chen Ort: der Lindacher Apfelrast.

Michael Köhlmeier zeigt mit „Frankie“, dass spannendes Erzählen auch so gehen kann. Als würden zwei Kugeln auf einer schiefen Ebene hinunterro­llen.

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Michael Köhlmeier. [ Foto: Peter-Andreas Hassiepen] Nach „Matou“nun „Frankie“.
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Roman. 208 S., geb., € 24,70 (Hanser)
Michael Köhlmeier Frankie Roman. 208 S., geb., € 24,70 (Hanser)

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