Die Lizenz zum Erzählen
Michael Köhlmeiers Kunst besteht im Falle von „Frankie“darin, gleichsam aus dem Nichts heraus etwas zu machen. In Frankie und seinem Großvater begegnen sich zwei bis dahin streng getrennte Welten.
Michael Köhlmeier ist ein großartiger Erzähler. Wie aber schafft es der Vorarlberger Autor, dass bei ihm die ganze Welt in einem narrativen Gesamtzusammenhang erscheint? Eine Antwort auf diese Frage bietet Köhlmeiers jüngstes großes Buch. In diesem 950-Seiten-Roman stattete der Autor seinen Erzähler mit einer geradezu hypertextuellen Auctoritas aus. Der titelgebende Kater Matou, der wie eine jede gewöhnliche Katze sieben Leben hat, vermag es nämlich, nach jedem Tod an andere Orte und Zeitpunkte der Weltgeschichte zu springen. Mit diesem Kniff verschaffte sich der Autor die absolute Lizenz zum Erzählen. In begleitenden Gesprächen hat Köhlmeier angemerkt, dass er diese Konstruktion während des Schreibens an „Matou“als einen Akt der größtmöglichen Freiheit erlebt hat.
Am Dienstag haben sie Opa entlassen
Umfangreichen großen Büchern folgen im Gesamtwerk Köhlmeiers oft unmittelbar kleinere und schmalere Prosatexte nach. So ist es auch diesmal. Das soeben erschienene Buch „Frankie“hat etwas mehr als 200 Seiten und wird vom Verlag als Roman bezeichnet, auch wenn der Text eine klassische Erzählung ist. Es gibt hier nur einen einzigen Handlungsstrang, ja eigentlich sollte man präziser sagen: Es herrscht hier nur eine einzige erzählerische Konstellation, die dann auch schon im ersten Absatz des Buches ausgebreitet ist :
„Am Dienstag haben sie Opa entlassen. Er ist jetzt einundsiebzig. Mama wollte, dass ich mitgehe, ihn abholen. Wir sind erst im Zug bis Krems gefahren und dann weiter zu Fuß, aber ich habe es mir nach einer Weile anders überlegt und mich auf die Bank hinter der Fußgängerbrücke gesetzt. Mama hat gesagt: ,Was jetzt?‘ Ich habe gesagt: ,Ich warte hier.‘“
Im Gegensatz zu dem Buch „Matou“, in dem die erzählerische Welt zu einem Reich der unendlichen Möglichkeiten geweitet ist, versammelt sich in „Frankie“das erzählerische Substrat auf einer Bleistiftspitze. Auch hier steckt die Erzählerfigur im Buchtitel. Frankie wird der 14-jährige Enkel aber nur von einer einzigen Person, eben dem nach 18-jähriger Haft soeben entlassenen Großvater genannt, für alle anderen heißt der Bub Frank. Frank und sein Großvater treffen unvermittelt aufeinander, sie haben sich vorher nicht gekannt. Mit diesen beiden Figuren sind auch schon alle wesentlichen Elemente des Buches benannt, denn die alleinerziehende Mutter, bei der Frank lebt, bleibt im Hintergrund. Im Gegensatz zu „Matou“, wo es darum ging, aus einer Vielzahl an Möglichkeiten die interessantesten zu wählen, besteht die erzählerische Kunst im Falle von „Frankie“nunmehr darin, gleichsam aus dem Nichts heraus etwas zu machen.
In Frank und seinem Großvater begegnen sich zwei bis dahin streng getrennte Welten. Wie kann daraus eine gemeinsame Geschichte entstehen? Köhlmeier legt die Realien offen: Der Großvater zieht in eine Wohnung in der Brigittenau, Frank und seine Mutter leben im vierten Wiener Gemeindebezirk, Blechturmgasse 12, Hochparterre. Man kann sich die Adresse auf Google Street View anschauen: Ein alter Mann schaut auf dem dort verfügbaren Bild aus dem Fenster, ganz so, als ob auch er eine Erfindung des Autors wäre. Franks Großvater hat etwas unheilvoll Beunruhigendes an sich, ähnlich wie Franks Vater, vor dem sich Mutter und Sohn auch immer gefürchtet haben.
Krimis aus der Gefängnisbibliothek
Mehr noch als von Furcht ist das Verhältnis zwischen Frankie und seinem Großvater aber von einer Art der gegenseitigen Neugier geprägt. Der alte Mann sucht seinen Enkel oft an Nachmittagen und Abenden auf, an denen die Mutter in der Arbeit ist. „Garderoberin in der Volksoper“, der Opa sagt dazu: „Ein Deppenberuf!“Seinem Enkel stellt er ein Schachbrett vor die Nase, erklärt ihm notdürftig mögliche Züge, räumt dann im Handumdrehen alle Figuren vom Brett und tut so, „als ob es eine Freude sein könnte, gegen einen Anfänger wie mich zu gewinnen“.
Sporadisch erzählt der Opa dem Enkel Geschichten aus der Haft. Er habe dort mehr als fünfhundert Kriminalromane gelesen, sagt er, darunter die besten: Dashiell Hammett, James Hadley Chase und Jim Thompson. Eigentlich sei es ja ein schlechter Witz, dass sich in der Gefängnisbibliothek fast nur Kriminalromane zum Ausleihen befänden. Worin das oder die Verbrechen des Großvaters bestanden, bleibt unklar. Frank wagt es nicht, Details zu erfragen, auch im Internet findet sich nichts Genaueres. „Zum Mörder wirst du geboren“, sagt der Großvater einmal. Und: Nirgends seien die Gedanken so frei wie im Gefängnis, denn dort müsse man sich in seinem Leben um nichts Äußeres mehr kümmern. Wie die großen Philosophen, die ja allesamt auch genügend Personal hatten. Die Hälfte seiner Zeit im Knast, die ersten acht, neun Jahre, habe er über nichts Eigenes nachgedacht. Erst in der zweiten Hälfte kamen ihm dann die Gedanken.
Wir tun etwas. Fertig.
„Und weißt du, was der Hauptgedanke war? Ich sag es dir. Dir sage ich es. Nämlich: ob das Wort Warum nicht in Wahrheit ein beschissener Scheißdreck ist. Ich bin dahintergekommen, dass wir nicht etwas aus irgendeinem Grund tun. Das Ergebnis meines zehnjährigen Denkens lautet: Wir tun etwas. Fertig. Wir tun es, weil wir es tun. Und sogar das ist falsch. Weil und Warum gehören zusammen wie Trinken und Durst. Also kannst du beide Wörter streichen. Wir tun. Fertig. Eine wirklich gescheite Justiz würde sagen: Er hat es getan. Ab ins Loch mit ihm! Kein Warum, kein Weil. Er hat getan. Fertig.“
Etwas von dieser fatalen Logik bekommt in „Frankie“auch die Erzählung selbst ab. Die Geschichte entwickelt sich streng in dem Rahmen, den die Ausgangslage ihr vorgibt. Auf dem Großvater liegt eine riesenhafte Schicksalslast, die ihm Entscheidungsmöglichkeiten nimmt. Bewegung entsteht in einer solchen Welt als eine unmittelbare Folge dinglicher Konstellationen. Folgerichtig sind es dann auch die Dinge selbst, die die Erzählung vorantreiben.
Plötzlich kommt eine Pistole ins Spiel und verlangt, „dass man mit ihr etwas tut“. Mit dem Auftauchen dieses Gegenstandes gibt es kein Zurück mehr: Schüsse, Autobahnfahrten und dunkle Machenschaften folgen bis hin zu einem Showdown an einem wirklich gespenstischen Ort: der Lindacher Apfelrast.
Michael Köhlmeier zeigt mit „Frankie“, dass spannendes Erzählen auch so gehen kann. Als würden zwei Kugeln auf einer schiefen Ebene hinunterrollen.