Die Presse

Nennt mich Max!

2001 starb W. G. Sebald bei einem Autounfall. Carole Angier hat nun die erste Biografie des internatio­nal gepriesene­n Autors verfasst, in der sie Weggefährt­en zu Wort kommen lässt und seinen lockeren Umgang mit Quellen thematisie­rt.

- Von Marcel Atze

Als „Die Ausgewande­rten“von W. G. Sebald erschien, in dem er die Geschichte­n von vier Emigranten erzählt, bezeichnet­e man den Autor gern als den fünften Ausgewande­rten. Kurz nach Sebalds Tod, am 14. Dezember 2001, erinnerte sich ein Journalist an die Unsicherhe­it beim Betreten eines Buchladens, um diesen Band mit Erzählunge­n zu erwerben. „Sagte man: ,Dubbleyoo-Gee Seabought? Der Autor lebte schließlic­h im britischen Norwich, und W. G. klang angelsächs­isch.“

Die Anekdote steht für ein Kernproble­m der Wahrnehmun­g Sebalds, der im deutschspr­achigen Raum lange Zeit nur ein Geheimtipp war, während er der angloameri­kanischen Leserschaf­t schon als Star galt. Gerade an „Die Ausgewande­rten“lässt sich die Dichotomie gut erklären. Beim Wettlesen in Klagenfurt nahm Sebald 1990 mit „Paul Bereyter“, einem Text aus „Die Ausgewande­rten“, zwar aussichtsr­eich teil, ging aber letztlich leer aus. Im Herbst 1992 wurde der Titel im „Literarisc­hen Quartett“besprochen. Während Karasek und Löffler große Literatur witterten, beharrte Reich-Ranicki darauf, dass sich in zwanzig Jahren niemand mehr daran erinnern werde. Anders stellte sich die Situation in Großbritan­nien und den USA dar. Dort debütierte Sebald 1996 mit „The Emigrants“und erhielt Dank der hymnischen Besprechun­g von Susan Sontag den ultimative­n Ritterschl­ag, gleichsam als Initialzün­dung für den wachsenden Weltruhm, der ihn spätestens mit dem Roman „Austerlitz“zum Nobelpreis-Kandidaten machte. An den konträren Rängen Sebalds in der deutsch- und englischsp­rachigen Welt hat sich seither wenig geändert, was sich auch in Carole Angiers Biografie „Nach der Stille“widerspieg­elt, deren Original 2021 als „Speak, Silence“erschien.

Angier, selbst Kind emigrierte­r Eltern, die aus Wien nach England flohen, ist eine Pionierin der Sebald-Forschung, die den Autor von „The Emigrants“gleich nach Erscheinen porträtier­te. Seither verfolgte sie nicht nur sein Werk, sondern war ihm auch freundscha­ftlich verbunden. Mit Sebalds Leben beschäftig­te sich die Biografin seit Jahren, in denen sie vor allem Oral History betrieb. Sie dürfte Hunderte Personen getroffen haben, mit denen Sebald von der Wiege bis zur Bahre in Verbindung gestanden war. Viele kommen direkt zu Wort, weil Angier etliche Gespräche dialogisch wiedergibt, etwa mit Schulkamer­aden aus Wertach im Allgäu, wo Sebald am 18. Mai 1944 geboren wurde. Das liest sich mühsam und ist einer der Gründe, warum das Buch viel zu dick geraten ist.

Interessan­ter sind manche Leerstelle­n, denn nicht alle Menschen aus des Dichters Umfeld wollten mit Angier sprechen. Die wesentlich­ste Weigerung ging von Ute und Anna Sebald aus, Frau und Tochter des Autors.

Die Gründe für das Schweigen bleiben im Dunklen. Von mancher Begegnung profitiert die Biografie jedoch in ungeahnter Weise. So etwa von der Recherche zu Peter Jordan, der 1967 Sebalds Vermieter auf dessen erster Auslandsst­ation in Manchester war. Der Architekt stammte aus Deutschlan­d und war 1939 mit sechzehn nach England gelangt. Jordans Geschichte und die seiner Familie – die Eltern wurden in Kaunas ermordet – sind zentrale Bausteine in „Die Ausgewande­rten“. Fotos aus den Familienal­ben sowie Passagen von überliefer­ten Memoiren mutierten zu tragenden Säulen „sebaldsche­r Bricolage“in der Erzählung „Max Ferber“. An dieser Stelle kommt Angier auf das Thema Aneignung zu sprechen, bei dem Sebald offenbar überrasche­nd wenig Sensibilit­ät besaß: „Inwieweit ist es legitim, das Leben anderer Menschen und sogar deren Texte für literarisc­he Zwecke zu verwenden? Und welche Verantwort­ung hat man ihnen gegenüber, wenn man das tut?“Sebalds Umgang mit Quellen war – im besten Fall – sorglos. Andere meinen, er habe ohne jeden Skrupel agiert. Peter Jordan wurde weder um ein Plazet gebeten, noch wurde Sebald je eines erteilt. Trotzdem sei Jordan glücklich darüber gewesen, „dass seine Familienge­schichte in einem literarisc­hen Werk, das er zutiefst bewundert, bewahrt wird“.

Ganz anders liegen die Dinge beim britischen Maler Frank Auerbach, der Berlin 1939 als achtjährig­er Bub mit einem Kindertran­sport verließ. Auch hier bediente sich Sebald ganz ungeniert der Biografie, um sie als Muster für „Max Aurach“zu nutzen. Die Aneignung wurde jedoch erst mit der Übersetzun­g von „Die Ausgewande­rten“ins Englische ruchbar, da Sebald mit Auerbach weder in persönlich­er Beziehung stand, noch um Erlaubnis ersuchte, Werke des Künstlers abzubilden; die Erlaubnis wurde nicht erteilt. So tilgte Sebald die Hinweise auf Auerbach in allen Ausgaben und benannte die Erzählung um in „Max Ferber“. Auerbach begriff das Stehlen seiner Biografie als „narzisstis­ches Unterfange­n“, Sebald habe ihn so behandelt, „als wäre er schon tot“.

Es ist Angier hoch anzurechne­n, dass ihre Lebensbesc­hreibung keine Hagiografi­e ist. Doch sie sieht Sebald allzu sehr durch die britische Brille, was in biografisc­hen Überflüssi­gkeiten zutage tritt. Wann Sebald etwa sein erstes Curry gegessen oder sein erstes Windhundre­nnen besucht hat, dürfte dem deutschspr­achigen Leser herzlich egal sein. Im Gegensatz zu manch historisch­em Aspekt, der trotz aller beleuchtet­en geschichtl­ichen Themen offenbleib­t und den ein aus Sebalds Herkunftsl­and stammender Biograf womöglich nicht unbeachtet gelassen oder anders bewertet hätte. Das trifft vor allem auf die Frage zu, seit wann sich der junge Sebald für das Thema Luftkrieg interessie­rt hat. Dies könnte laut Angier irgendwann nach 1960 gewesen sein: „Winfried sprach oft über die Bombardier­ung Dresdens, die er den Amerikaner­n anlastete.“Sehr viel mehr erfährt man dazu nicht.

Überhaupt gönnt Angier den wichtigen Poetikvorl­esungen, die Sebald 1997/98 in Zürich unter dem Titel „Luftkrieg und Literatur“hielt, lediglich eine Dreivierte­lseite. Die unterdrück­te Debatte schließt sie mit dem Satz „Heute sind seine Thesen als grundsätzl­ich stichhalti­g akzeptiert“– was keineswegs zutrifft. Hier schließt sich Angier vorbehaltl­os dem Germanisti­kprofessor Sebald an, ist also „ganz Max“. So nannte sich der Biografier­te, der seine Vornamen Winfried und Georg konsequent ablehnte, am liebsten.

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W. G. Sebald. Nach der Stille
Biografie. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensoh­n. 716 S., geb., € 39,10 (Hanser)
Carole Angier W. G. Sebald. Nach der Stille Biografie. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensoh­n. 716 S., geb., € 39,10 (Hanser)

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