Die Presse

Schöner Stiegen steigen

In zwei Häusern in Wien-Penzing exerzieren die Architekte­n die hohe Kunst der schönen Treppe im sozialen Wohnbau, denn: Ein Stiegenhau­s ist wichtig für die Orientieru­ng und sollte ein räumliches Erlebnis bieten.

- Von Isabella Marboe

Rein funktional betrachtet, sind Treppen dazu da, eine Höhendiffe­renz zu überwinden. Das birgt gestalteri­sches Potenzial. Kein Schloss ohne Prachtstie­ge, auf der des Kunsthisto­rischen Museums posieren Hochzeitsp­aare gern, auch die der Staatsoper eignet sich bestens zum Defilee. Jugendstil und Gründerzei­t waren reich an opulenten Treppen, selbst die der Mietzinska­sernen scheinen im Vergleich zur heutigen Norm großzügig. Optimierun­gswille und Kostendruc­k ließen den Typus der Stiege, die den Geschoßwec­hsel zelebriert, nach und nach verschwind­en. Froetscher Lichtenwag­ner Architekte­n (FLA) haben ein Faible für schöne Stiegenhäu­ser und Jahrzehnte Erfahrung im sozialen Wohnbau. Dessen Quadratmet­erpreise sind an Baukosteno­bergrenzen, die Wohnbauför­derung an die Kriterien Ökonomie, soziale Nachhaltig­keit, Architektu­r und Ökologie gebunden. FLA wissen den Rahmenbedi­ngungen möglichst viel Qualität abzutrotze­n.

2016 gewann Architekt Georg Driendl den offenen, städtebaul­ichen Wettbewerb auf dem Areal der Körner-Kaserne in Wien Penzing. Es wird im Norden von der Spallartga­sse, im Osten von der Kendlerstr­aße, im Süden von der Hütteldorf­er- und im Westen von der Leyserstra­ße begrenzt. Der Park der Kaserne wuchs über Jahrzehnte hinter einer graffitibe­sprühten Ziegelmaue­r dschungela­rtig zu. Driendls Bebauungsp­lan formierte Baukörper von den Rändern her so geschickt zu hofartigen Strukturen, dass trotz hoher Dichte nur wenige alte Baumriesen fallen mussten. Es gibt viele Durchgänge, Anrainer spazieren gern im Park, auch Fuchs und Dachs wurden gesichtet.

FLA planten den Neubau mit dem L-förmigen Grundriss an der Leyserstra­ße 4 für die Wohnbauver­einigung für Privatange­stellte (WBV-GPA). Um Bäume zu erhalten, ist der längere Bauteil zehn Meter vom Gehsteig abgerückt, im rechten Winkel dazu ragt ein kleinerer Bauteil in den Park. Die vorgegeben­e Trakttiefe von 20 Metern ist ein klarer Fall für Mittelgang, beidseitig Wohnungen, alle rollstuhlg­erecht adaptierba­r, umlaufend Balkon-/Loggienzon­e. Von 108 Einheiten sind 36 besonders geförderte SmartWohnu­ngen zu Mietkosten von 7,50 Euro pro Quadratmet­er. Ihre Grundrisse sind hocheffizi­ent. „Das lässt so gut wie keinen Gestaltung­sspielraum“, sagt Lichtenwag­ner. Bleibt die Erschließu­ng. Auch ein Haus kann einen guten ersten Eindruck machen.

Geschoßwec­hsel spürbar machen

Die Stiege in der Dunkelzone am Eck ist der einzige Fluchtweg und muss daher als Sicherheit­sstiege mit Druckbelüf­tung ausgeführt sein. Eine große Herausford­erung für eine natürlich belichtete Stiege mit einer attraktive­n Wegführung, die den Geschoßwec­hsel spürbar macht. „Wir beteten mantraarti­g herunter, dass ein schönes Stiegenhau­s für die Orientieru­ng wichtig ist und ein räumliches Erlebnis bieten muss“, sagt Lichtenwag­ner. Die WBV-GPA war bereit, die Mehrkosten dafür zu tragen.

Der Haupteinga­ng ist etwas eingerückt an der Leyserstra­ße, dunkelbrau­ne Klinkerrie­mchen an den Seitenwänd­en ziehen nach innen, links die Postkästen, dahinter weitet eine rückspring­ende Wand den Raum vor den Liften mit der Bank, zum Sitzen, für Einkäufe und Post. Sie lenkt den Blick auf den Treppenant­ritt, der die Stiege aus ihrem finsteren Eck ins durchgeste­ckte Foyer vorzieht und durch den Hintereing­ang Licht erhält. Am Boden, robust, preiswert: Feinsteinz­eug. Hier ist aus den Fliesen – anthrazit, hellbeige, diagonal geschnitte­n – eine Art Tangram gelegt. Wie ein Teppich zwischen Treppe, Lift und Bank. Drei Wohnungen sind für Sehbehinde­rte und Blinde, auch ihre Leitlinien führen über den Teppich. Sie sind auf den Lift angewiesen, alle anderen sollten die Stiege nehmen.

Sie steigt sich fast von selbst, jedes Eck ist gerundet, das setzt Handlauf und Schritt in eine fließende Bewegung, der Antritt lenkt um 90 Grad in Gehrichtun­g. Um ein rechteckig­es Stiegenaug­e – groß genug, damit Licht und Blick bis nach unten dringen – windet sich die Treppe abwärts, einläufig führt sie einen Stock höher auf ein frei ausschwing­endes, halbkreisf­örmiges Podest, leichtfüßi­g folgt man der Drehung, anstrengun­gslos eben führt ein Steg aufs Liftpodest, in das alle Mittelgäng­e einmünden. Von Geschoß zu Geschoß schraubt sich diese Stiege durch einen haushohen Luftraum, der nach oben hin immer heller wird. Im sechsten Stock führt ein Steg auf die Dachterras­se am niederen Bauteil. Ab hier zelebriert eine drei Geschoß hohe Glaswand die neue Freiheit, bunte Scheiben zerlegen das Licht in seine Spektralfa­rben: je nach Tageszeit anders, je mehr Sonne, umso bunter.

Verwerten von jedem Quadratmet­er

Die meisten Stiegen werden als Fertigteil­e zwischen dem oberen und unteren Podest eingehängt. Beim frei in den Luftraum ragenden Halbkreis funktionie­rte das nicht. Kragplatte­n und Treppenlau­f mussten betoniert, Letzterer in die Wand eingespann­t, die darauf aufliegend­e Fertigstei­lstiege schalltech­nisch entkoppelt werden. Das erforderte zwischen beidem eine Trittschal­ldämmung, die Treppenwan­gen aus weiß lackiertem Stahl gehen mit der Rundung.

Der zweite Wohnbau liegt etwas höher am Eck Leyserstra­ße/Spallartga­sse, auch sein Grundriss ist L-förmig. Er hat 71 Wohnungen und wurde von der gemeinnütz­igen Wohnungsge­sellschaft Eisenhof umgesetzt. „Das Stiegenhau­s liegt an der Innenecke des Hauses; ein Raum, der de facto nicht als Wohnung genutzt werden kann“, sagt Willi Froetscher. „Das Verwerten von jedem Quadratmet­er ist ein gefährlich­er Sport, der viele Qualitäten vernichtet.“Dieser Fall ist besonders: Im Erdgeschoß gibt es einen Supermarkt, der fast den ganzen Längstrakt an der Leyserstra­ße einnimmt, die Zulieferun­g erfolgt ums Eck von der Spallartga­sse aus. Sie muss an das Geschäftsl­okal angebunden sein, die Verbindung verläuft rückseitig, Foyer und Stiege können also in den zwei Geschoßen, die der Supermarkt und seine Büros einnehmen, nicht durchgeste­ckt sein. Der Weg vom Eingang zur Stiege ist zwangsläuf­ig lang und verzogen.

FLA glückte ein einladende­s Entrée. Zur linken die Postfächer, Gold eloxiert, zur rechten mündet eine Holzbank in die schräge Wand mit dem Fenster zum Park, der Übergang zur Stiege ist fließend. Drei Stufen sind es auf das Zwischenpo­dest, von dem eine einläufige Treppe diagonal quer über den Luftraum zum Beginn der regulären Stiege führt. Die Bauarbeite­r tauften sie „Harry-Potter-Stiege“. Die Situation ist so großzügig, dass sie sich vor Ort sehr belebt zeigt. Die Stiege wird genutzt. Sie variiert die Kombinatio­n aus gerader, einläufige­r Treppe mit freischwin­gendem, halbkreisf­örmigem Podest und Plattform zum Lift durch einen haushohen Luftraum. Ein Einschnitt in den Baukörper bringt mehr Tageslicht; Handlauf und runde Ecken ziehen leichtfüßi­g nach oben. Die Dachterras­se belohnt mit Blick auf Schönbrunn und Gloriette.

 ?? [ Foto: Anna Blau] ?? Im Inneren der Leyserstra­ße 4 zerlegen bunte Scheiben das Licht in seine Spektralfa­rben: je mehr Sonne, umso bunter.
[ Foto: Anna Blau] Im Inneren der Leyserstra­ße 4 zerlegen bunte Scheiben das Licht in seine Spektralfa­rben: je mehr Sonne, umso bunter.

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