Nostalgietrip auf Schienen
Die ÖBB setzen auf der Strecke Wien–Hamburg neue Liegewagen ein. Eine Testfahrt mit vielen Erinnerungen.
Die Nachricht ließ alte Erinnerungen aufkommen: „Neuer Liegewagen für die Strecke Hamburg–Wien vorgestellt“, meldeten die Agenturen heuer im Hochsommer. Das war damals, im letzten Jahrtausend, meine Haus- und Hofstrecke: Als ich der Liebe wegen von Norddeutschland nach Wien pendelte, ehe ich Mitte der 1990er ganz da blieb. Die Geschichten, die ich an vielen Freitagnächten auf dem Weg in Richtung Süden und eine Woche später in der Sonntagnacht wieder retour in den Liegewagen erlebt habe, haben für Erinnerungen gesorgt, die bis heute bunt sind. Von der Fahrt im Sechserabteil mit den fünf entzückenden weißhaarigen Damen, die höchst vergnügt auf dem Weg zur Kur in Ungarn waren. Und mich so überwältigend liebenswürdig in ihre Likörrunden einbanden, dass ich den ganzen Samstag drauf in Wien noch Kopfweh hatte. Oder die fünf jungen Teppichleger in Trägerleiberln auf dem Weg zur Messe Wien, deren erster Anblick mich erst mäßig begeisterte – die sich dann aber an Ritterlichkeit überboten und untereinander nicht nur für Ruhe bei etwaigen Schnarchgeräuschen sorgten, sondern mir auch mein – bis heute noch immer monströses – Gepäck hinauf-, hinunter- und bis auf den Bahnsteig wuchteten.
Damalige Debatten?
Damals waren die Liegewagen in Vierer- und Sechserbelegung buchbar – die Fahrt im Sechserabteil kostete seinerzeit hin und retour 243 Mark bzw. 1700 Schilling – sahen allerdings beim Einsteigen noch aus wie ganz normale Abteile. Lediglich die obersten – und kürzesten, wie alle Liegewagenfahrer über 1,75 Meter damals wussten – Lagerstätten thronten während der ganzen Fahrt fest verankert über den Reisenden. Wenn es dann Schlafenszeit war, wurden die „Rückenlehnen“hinaufgeklappt und dienten als mittlere Etage in den Sechserabteilen; die Sitzflächen darunter wurden mittels der mitgebuchten Leintücher ebenfalls in Liegeflächen verwandelt. Was gern zu Diskussionen führte, wenn die einen Zugfahrer noch Likör trinken wollten, während die anderen bereits bettreif waren. Irgendwo zwischen Göttingen und Nürnberg einigte man sich aber friedlich. Meistens.
Spätestens in Linz, mit mehr Erfahrung später dann erst ab Melk, lungerten Fahrgäste und -innen wie ich dann bereits in der Warteschlange auf dem Gang herum, um samt Necessaire noch rechtzeitig in den kleinen Waschraum zu gelangen, den jeder Liegewagen zusätzlich zum WC einst hatte. Dort gab es ein großes Waschbecken mit Spiegel samt guter Beleuchtung, Haken an der Wand für Handtücher und frisches Gewand sowie kleine, mit Alufolie verschlossene Becher mit Trinkwasser, die zum Zähneputzen bereitstanden. Spätestens bis Hütteldorf sah man dann trotz einer Nacht im Abteil wieder recht menschlich aus und roch auch so. So erfrischt ließ sich dann der Blick aus dem Fenster genießen, während der Zug eine gefühlte Ewigkeit lang in den Westbahnhof einfuhr (die Älteren werden sich noch erinnern).
Heutige Multifunktion
Nun wurden sie also überarbeitet, die guten, alten Liegewagen, und eine Reise gen Norden zur Frau Mama stand eh an. Auf reizende Damen mit Likör oder höfliche Teppichleger als Reisebegleitung durfte ich diesmal nicht hoffen müssen, denn ich hatte ein Viererabteil für mich allein. Was terminlich nicht so einfach war, denn an vielen Terminen waren diese Abteile schon lang vorher ausgebucht.
Also betrat ich neugierig an einem Oktoberabend wieder diesen Zug, der einst eine so große Bedeutung für mich hatte – und war angenehm überrascht: Das Design ist – natürlich – nicht mehr mit dem Braun-Gold-Braun von einst zu vergleichen, hier dominieren jetzt Grau, Weiß, Rot und klare Linien. Die dem Ganzen ein „sauberes“Gefühl verleihen, weil man sich deutlich besser als einst vorstellen kann, dass sich das Abteil gut reinigen lässt. Zumal die damals überall gegenwärtigen und auch von mir viel zu oft genutzten Aschenbecher glücklicherweise der Vergangenheit angehören.
Selbst Diskussionen über die Schlafenszeit stehen nicht mehr zu befürchten: Hier wird nichts mehr geklappt, sondern die vier Liegeflächen – Sechserabteile gibt es in dem neuen Design noch nicht – können von Anfang an wahlweise zum Sitzen (mit einem festen Polster an der Rückwand), Liegen oder auch gemütlichen Fläzen genutzt werden. Dafür, dass dabei gearbeitet oder gestreamt werden kann, sorgt das kostenlose WLAN, das selbst auf der lang für seine Netzlücken berüchtigten Westbahnstrecke zumindest in dieser Nacht keinen Grund zum Klagen gibt. Zum späteren Schlafen liegt ein Leintuch bereit, in das man wie in einen offenen Schlafsack hineinschlüpfen kann, wenn man den direkten Kontakt zum Darunter oder der darüber liegenden Decke vermeiden möchte.
Kaffee oder Tee?
Kurz nachdem man sich eingerichtet hat, klopft auch schon der Schaffner an die Tür, kontrolliert das Ticket und fragt, was man zum Frühstück möchte. Ob das damals auch so war, ist in meiner Erinnerung nicht mehr vorhanden, heute nehme ich aber gern den Kaffee und ein Gebäck mit Marmelade in der Früh. Nachdem das geklärt ist, erläutert er mir freundlich sämtliche Funktionen im Abteil – von den diversen Lichtschaltern bis zum Schließsystem der Tür. Die lässt sich von innen so verriegeln, dass auch der Schaffner sie nicht öffnen kann – was für eine Alleinreisende immer ein gutes Gefühl ist, selbst beim nettesten aller Kondukteure. Allerdings zeigt sich hier noch eine Kinderkrankheit bei den neuen Garnituren: Eigentlich sollte sich die Tür von außen wie im Hotel mit einer Schlüsselkarte öffnen lassen – diese sind heute Nacht aber nicht verfügbar. Und so muss der arme Schaffner jedes Mal von außen wieder aufsperren, wenn im Abteil keine zweite Person ist und man es kurz verlässt. Was er die ganze Nacht freundlich tut – auch das ein schöner Unterschied zu einst: Die Stimmung der Schaffner von einst möchte ich mir gar nicht ausmalen, wenn sie die ganze Nacht als Türöffner im Einsatz gewesen wären.
Ein paar Dinge waren dann aber doch damals besser: Zum einen haben die neuen Liegewagengarnituren keinen Waschraum mehr, und ein Zug-WC ist einfach nicht der Ort, an dem man sich die Zähne putzen möchte. Vielleicht bin ich inzwischen auch einfach zu alt dafür, aber mir geht der kleine Raum ab. Genau wie die Broschüre, in der einst alle Haltestellen entlang des Wegs mit ihren Ankunftsund Abfahrtszeiten aufgelistet waren – mittels derer wusste man immer, ob man noch pünktlich unterwegs war. Aber mit WLAN im Zug lässt sich die Info heute einfach ergoogeln – und nachhaltiger ist es auch.
Nachdem trotz eines längeren Aufenthalts an der Grenze online geklärt ist, dass wir immer noch im Zeitplan sind, strecke ich die Beine aus, lösche das Licht und schlafe – wie einst das leichte, einschläfernde Ruckeln genießend – ziemlich gut bis zum nächsten Morgen, bis der Schaffner pünktlich zu meiner Wunschzeit mit Kaffee und Gebäck an die Abteiltür klopft.