Die Presse

Sieben Wochen Ausnahmezu­stand

Die Uruguayer feiern mit mehr als 50 Tagen den längsten Karneval der Welt. Er unterschei­det sich gewaltig von jenem in Rio. Mit parodistis­chen Einlagen und speziellen Trommeln hat er einen ganz eigenen Charakter entwickelt.

- VON MARC VORSATZ

Das Warten hat ein Ende. Endlich wieder Karneval! Gott sei Dank.“Alvaro Rabasquiño faltet die Hände, blickt lächelnd in den glutroten Abendhimme­l von Montevideo und legt alsdann die Stirn in Falten. „Das waren zwei harte Jahre für uns Uruguayer“, sinniert der Trommelbau­er. „So ziemlich alles, was uns heilig ist, war nicht oder nur noch sehr eingeschrä­nkt möglich: mit Freunden feiern, König Fußball und natürlich unser geliebter Karneval, der längste der Welt.“

Plötzlich beginnt Alvaro zu strahlen. Irgendwo ein paar Straßen weiter im Barrio Sur braut sich etwas zusammen. Der treibende Rhythmus unzähliger Trommeln schallt in die hereinbrec­hende tropische Nacht. Jetzt heißt es abschalten, das Leben zelebriere­n und – wieder feiern.

Rhythmus der Candombe

Vielleicht sind ja sogar ein paar seiner Instrument­e mit von der Partie. Viele Trommeln hat er mit seinen eigenen Händen erschaffen und tragen sein Logo AR. Alvaro gilt als der Beste seines Fachs in Montevideo, wenn nicht gar in ganz Uruguay. So ist es nicht verwunderl­ich, dass sich in letzter Zeit wieder etliche CandombeDr­ummer die Klinke seiner bescheiden­en Werkstatt am Stadtrand in die Hand gaben? Denn das alles beherrsche­nde Instrument des Candombe ist die Trommel.

Aber was ist eigentlich Candombe? „Candombe bezeichnet im eigentlich­en Sinn den Rhythmus Uruguays, den afrikanisc­he Sklaven ab 1750 in das winzige Land zwischen den beiden Riesennach­barn Argentinie­n und Brasilien gebracht haben“, erklärt der Maestro. „Der sich, genau wie Tango und Samba, über zwei Jahrhunder­te zu einem völlig eigenen Musikstil entwickelt hat.“

Zu Zeiten der Sklaverei ein Ventil der geschunden­en Seelen, eine nächtliche Auszeit am Stadtrand Montevideo­s. Eine explosive Mischung aus Rhythmus und Tanz, um für wenigstens ein paar Stunden in eine andere Realität abzutauche­n. Zu gefährlich, befand 1808 die spanische Kolonialma­cht und verbot Candombe. Vergebens. Heute ist Candombe integraler Bestandtei­l der uruguayisc­hen Kultur, gar ein immateriel­les Erbe der Weltkultur. Das befand auch die Unesco im Jahr 2009.

Kein Jahrmarkt der Eitelkeite­n

Seit ein paar Monaten ziehen die Trommler und Tänzerinne­n am Wochenende wieder durch die Straßen der Barrios Sur und Palermo. Nein, die wohlhabend­sten Stadtteile von Montevideo sind das sicher nicht. Die Häuser sind hier kleiner, die Schlaglöch­er größer, Putz bröckelt an jeder Ecke. Doch das scheint niemanden sehr zu stören. Zumindest nicht im Jänner.

Tänzerin Maria lässt sich von ihrer Schwester in einer Lagerhalle im Barrio Sur schminken. Nicht wirklich schöne Maskerade, aber stark. Auch die Kostüme wirken bei näherer Betrachtun­g recht improvisie­rt. Spätestens hier wird klar, dass der Karneval in Uruguay kein Jahrmarkt der Eitelkeite­n ist. Ganz anders als beim großen Bruder Brasilien. Auch barbusige Tänzerinne­n wären unvorstell­bar am Rıo de la Plata, dem Silberflus­s.

Als Maria und ihre Freunde wenig später trommelnd und tanzend durch die Straßen ihres Viertels ziehen und von freudigen Passanten angefeuert werden, sprühen sie nur so vor Lebensfreu­de, sind alle Widrigkeit­en des Alltags längst vergessen. Doch der Umzug ist ja eigentlich nur ein bescheiden­es Vorglühen für die jetzige große Karnevalsp­arade Desfile Inaugural, die Parade der Samba-Schulen Ende Jänner und die Las-Llamadas-Paraden im Februar, bei denen bis zu 2000 Trommler Montevideo in den karnevalis­tischen Ausnahmezu­stand versetzen.

Satirische Murga-Ensembles

Der Höhepunkt des längsten Karnevals der Welt war das dann aber noch lang nicht. Denn nun übernehmen die Murgas vollends die Regie. Das sind kleine, 17-köpfige Ensembles, bestehend aus 13 Sängern, drei Perkussion­isten und dem künstleris­chen Leiter, der als eine Art Dirigent seine Leute zu Höchstleis­tungen peitscht. Ihnen gehört der feuchtheiß­e Februar, sie sind die wahren Helden, die eigentlich­en Stars. Denn diese satirische­n Ensembles besingen auf humorvolls­te Art und Weise, wo dem Volk der Schuh am meisten drückt, welche Politiker die tiefsten Taschen haben und was alles sonst noch so verkehrt läuft im Land.

Diese karnevalis­tische Kunstform schwappte mit spanischen Auswandere­rn zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts aus Cádiz nach Uruguay und durchlief in über 100 Jahren zahlreiche Transforma­tionen. Manche Vorstellun­gen weichen von dem klassische­n Murga-Konzept ab, erinnern mit ihren Büttenrede­n gar an den deutschen Karneval. Kein Wunder, zog es doch ab 1850 vermehrt auch Rheinlände­r an den R´ıo de la Plata.

Karneval und Fußball

Aus dem ganzen Land sind die Freizeitmu­siker mit Kind und Kegel angereist. Alles aus eigenen Mitteln gestemmt. Sie schlafen bei Freunden, in Turnhallen oder sonst wo. Die Murga La Clave aus der kleinen Provinzsta­dt San Carlos übernachte­t sogar in den Katakomben des legendären Estadio Centenario, des einzigen offizielle­n Weltfußbal­lmonuments. Ein Heiligtum für jeden Uruguayer. Denn das kleine Land kennt genau zwei Religionen: den Karneval und den Fußball.

Strenge Auswahl fürs Finale

Hier besiegte Uruguay 1930 den anderen großen Bruder, Argentinie­n, im ersten Endspiel der Geschichte der Fußballwel­tmeistersc­haft und wurde Weltmeiste­r. „Wir sind uns dieser großen Ehre durchaus bewusst“, strahlt La-Clave-Chef Martin Sousa. „Das motiviert uns zusätzlich, übt aber auch

einen enormen Erfolgsdru­ck auf uns aus.“In der Tat ist die Konkurrenz hart. Die besten Ensembles, die sich in den Vorrunden qualifizie­rt haben, treten nun Abend für Abend in der Hauptstadt gegeneinan­der an. „Es gilt, eine unerbittli­che Jury, vor allem aber das Publikum mit unserem quasi A-cappella-Gesang zu begeistern.“Denn begleitet wird der kraftvolle Chorus lediglich von einem Becken, einer kleinen Parade- und einer großen Basstromme­l.

Überwältig­ender Chorus

Wie das geht, beweisen die Männer dann am Abend par excellence. Sie begeistern in einer einstündig­en Performanc­e das restlos ausverkauf­te Teatro de Verano. Mit ihren clownesken Kostümen, viel Charme und Witz und einer gehörigen Portion Satire und vor allem aber durch einen absolut überwältig­enden Chorgesang haben sie schließlic­h auch den müdesten Zuschauer vom Hocker gerissen. Am Ende des Tages gehört La Clave eines der Sehnsuchts­tickets für das Finale Ende Februar. Am Aschermitt­woch sei alles vorbei, sagt man in Rio, auf den Kapverden, am Rhein und in Venedig – nicht aber in Montevideo.

Für den Trommelman­n Alvaro Rabasquin˜o bedeutet das Finale dann auch das nahe Ende seines Müßiggangs. Denn schon sehr bald werden die ersten CandombeDr­um-Bestellung­en für die nächste Karnevalss­aison aufgegeben. Und die kommt in keinem Land der Welt schneller als in Uruguay.

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[ Vorsatz ] Alvaro Rabasquin˜o gilt als einer der besten Trommelbau­er Montevideo­s. Rechts: Man geht nicht schön, sondern wild maskiert.
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 ?? [ Marc Vorsatz ] ?? Mit viel Percussion: typischer Umzug in Uruguays Karneval.
[ Marc Vorsatz ] Mit viel Percussion: typischer Umzug in Uruguays Karneval.

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