Sieben Wochen Ausnahmezustand
Die Uruguayer feiern mit mehr als 50 Tagen den längsten Karneval der Welt. Er unterscheidet sich gewaltig von jenem in Rio. Mit parodistischen Einlagen und speziellen Trommeln hat er einen ganz eigenen Charakter entwickelt.
Das Warten hat ein Ende. Endlich wieder Karneval! Gott sei Dank.“Alvaro Rabasquiño faltet die Hände, blickt lächelnd in den glutroten Abendhimmel von Montevideo und legt alsdann die Stirn in Falten. „Das waren zwei harte Jahre für uns Uruguayer“, sinniert der Trommelbauer. „So ziemlich alles, was uns heilig ist, war nicht oder nur noch sehr eingeschränkt möglich: mit Freunden feiern, König Fußball und natürlich unser geliebter Karneval, der längste der Welt.“
Plötzlich beginnt Alvaro zu strahlen. Irgendwo ein paar Straßen weiter im Barrio Sur braut sich etwas zusammen. Der treibende Rhythmus unzähliger Trommeln schallt in die hereinbrechende tropische Nacht. Jetzt heißt es abschalten, das Leben zelebrieren und – wieder feiern.
Rhythmus der Candombe
Vielleicht sind ja sogar ein paar seiner Instrumente mit von der Partie. Viele Trommeln hat er mit seinen eigenen Händen erschaffen und tragen sein Logo AR. Alvaro gilt als der Beste seines Fachs in Montevideo, wenn nicht gar in ganz Uruguay. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in letzter Zeit wieder etliche CandombeDrummer die Klinke seiner bescheidenen Werkstatt am Stadtrand in die Hand gaben? Denn das alles beherrschende Instrument des Candombe ist die Trommel.
Aber was ist eigentlich Candombe? „Candombe bezeichnet im eigentlichen Sinn den Rhythmus Uruguays, den afrikanische Sklaven ab 1750 in das winzige Land zwischen den beiden Riesennachbarn Argentinien und Brasilien gebracht haben“, erklärt der Maestro. „Der sich, genau wie Tango und Samba, über zwei Jahrhunderte zu einem völlig eigenen Musikstil entwickelt hat.“
Zu Zeiten der Sklaverei ein Ventil der geschundenen Seelen, eine nächtliche Auszeit am Stadtrand Montevideos. Eine explosive Mischung aus Rhythmus und Tanz, um für wenigstens ein paar Stunden in eine andere Realität abzutauchen. Zu gefährlich, befand 1808 die spanische Kolonialmacht und verbot Candombe. Vergebens. Heute ist Candombe integraler Bestandteil der uruguayischen Kultur, gar ein immaterielles Erbe der Weltkultur. Das befand auch die Unesco im Jahr 2009.
Kein Jahrmarkt der Eitelkeiten
Seit ein paar Monaten ziehen die Trommler und Tänzerinnen am Wochenende wieder durch die Straßen der Barrios Sur und Palermo. Nein, die wohlhabendsten Stadtteile von Montevideo sind das sicher nicht. Die Häuser sind hier kleiner, die Schlaglöcher größer, Putz bröckelt an jeder Ecke. Doch das scheint niemanden sehr zu stören. Zumindest nicht im Jänner.
Tänzerin Maria lässt sich von ihrer Schwester in einer Lagerhalle im Barrio Sur schminken. Nicht wirklich schöne Maskerade, aber stark. Auch die Kostüme wirken bei näherer Betrachtung recht improvisiert. Spätestens hier wird klar, dass der Karneval in Uruguay kein Jahrmarkt der Eitelkeiten ist. Ganz anders als beim großen Bruder Brasilien. Auch barbusige Tänzerinnen wären unvorstellbar am Rıo de la Plata, dem Silberfluss.
Als Maria und ihre Freunde wenig später trommelnd und tanzend durch die Straßen ihres Viertels ziehen und von freudigen Passanten angefeuert werden, sprühen sie nur so vor Lebensfreude, sind alle Widrigkeiten des Alltags längst vergessen. Doch der Umzug ist ja eigentlich nur ein bescheidenes Vorglühen für die jetzige große Karnevalsparade Desfile Inaugural, die Parade der Samba-Schulen Ende Jänner und die Las-Llamadas-Paraden im Februar, bei denen bis zu 2000 Trommler Montevideo in den karnevalistischen Ausnahmezustand versetzen.
Satirische Murga-Ensembles
Der Höhepunkt des längsten Karnevals der Welt war das dann aber noch lang nicht. Denn nun übernehmen die Murgas vollends die Regie. Das sind kleine, 17-köpfige Ensembles, bestehend aus 13 Sängern, drei Perkussionisten und dem künstlerischen Leiter, der als eine Art Dirigent seine Leute zu Höchstleistungen peitscht. Ihnen gehört der feuchtheiße Februar, sie sind die wahren Helden, die eigentlichen Stars. Denn diese satirischen Ensembles besingen auf humorvollste Art und Weise, wo dem Volk der Schuh am meisten drückt, welche Politiker die tiefsten Taschen haben und was alles sonst noch so verkehrt läuft im Land.
Diese karnevalistische Kunstform schwappte mit spanischen Auswanderern zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Cádiz nach Uruguay und durchlief in über 100 Jahren zahlreiche Transformationen. Manche Vorstellungen weichen von dem klassischen Murga-Konzept ab, erinnern mit ihren Büttenreden gar an den deutschen Karneval. Kein Wunder, zog es doch ab 1850 vermehrt auch Rheinländer an den R´ıo de la Plata.
Karneval und Fußball
Aus dem ganzen Land sind die Freizeitmusiker mit Kind und Kegel angereist. Alles aus eigenen Mitteln gestemmt. Sie schlafen bei Freunden, in Turnhallen oder sonst wo. Die Murga La Clave aus der kleinen Provinzstadt San Carlos übernachtet sogar in den Katakomben des legendären Estadio Centenario, des einzigen offiziellen Weltfußballmonuments. Ein Heiligtum für jeden Uruguayer. Denn das kleine Land kennt genau zwei Religionen: den Karneval und den Fußball.
Strenge Auswahl fürs Finale
Hier besiegte Uruguay 1930 den anderen großen Bruder, Argentinien, im ersten Endspiel der Geschichte der Fußballweltmeisterschaft und wurde Weltmeister. „Wir sind uns dieser großen Ehre durchaus bewusst“, strahlt La-Clave-Chef Martin Sousa. „Das motiviert uns zusätzlich, übt aber auch
einen enormen Erfolgsdruck auf uns aus.“In der Tat ist die Konkurrenz hart. Die besten Ensembles, die sich in den Vorrunden qualifiziert haben, treten nun Abend für Abend in der Hauptstadt gegeneinander an. „Es gilt, eine unerbittliche Jury, vor allem aber das Publikum mit unserem quasi A-cappella-Gesang zu begeistern.“Denn begleitet wird der kraftvolle Chorus lediglich von einem Becken, einer kleinen Parade- und einer großen Basstrommel.
Überwältigender Chorus
Wie das geht, beweisen die Männer dann am Abend par excellence. Sie begeistern in einer einstündigen Performance das restlos ausverkaufte Teatro de Verano. Mit ihren clownesken Kostümen, viel Charme und Witz und einer gehörigen Portion Satire und vor allem aber durch einen absolut überwältigenden Chorgesang haben sie schließlich auch den müdesten Zuschauer vom Hocker gerissen. Am Ende des Tages gehört La Clave eines der Sehnsuchtstickets für das Finale Ende Februar. Am Aschermittwoch sei alles vorbei, sagt man in Rio, auf den Kapverden, am Rhein und in Venedig – nicht aber in Montevideo.
Für den Trommelmann Alvaro Rabasquin˜o bedeutet das Finale dann auch das nahe Ende seines Müßiggangs. Denn schon sehr bald werden die ersten CandombeDrum-Bestellungen für die nächste Karnevalssaison aufgegeben. Und die kommt in keinem Land der Welt schneller als in Uruguay.