Die Presse

Die Meidlinger Schreibkla­use

Seit März 2021 bewohnt Schriftste­llerin Gertraud Klemm zeitweise eine winzige Wohnung im 12. Wiener Bezirk, die nur für eines eingericht­et ist: schreiben, lesen, kreativ sein.

- VON DORIS BARBIER

Um kreativ sein zu können, braucht es Freiraum: Das wusste auch Virginia Woolf, die über die Bedeutung des Rückzugsra­ums ausführlic­h geschriebe­n hat. Seit März 2021 bewohnt die Schriftste­llerin Gertraud Klemm zeitweise eine kleine Wohnung im 12. Wiener Bezirk, die sie liebevoll ihre Schreibkla­use nennt. Das Haus in der Nähe der Flurschütz­gasse ist ein unauffälli­ges Gründerzei­thaus, das im Jahr 2020 renoviert wurde. „Die Wohnung liegt nahe der Südbahn, da bin ich schnell wieder daheim in Pfaffstätt­en. Und sie ist auch praktisch nach Abendveran­staltungen, da kann ich dann in Wien bleiben.“

Kleiner Raum für großen Flow

Bis zur Pandemie schrieb sie ihre Romane immer in Klausuren. In Pfaffstätt­en, wo sie mit Mann und Kindern lebt, „ist ein konzentrie­rtes Arbeiten an großen Projekten fast nicht möglich. Ich habe zwei Söhne, die unterbrech­en mich natürlich.“Residences im In- und Ausland „waren zwar cool, aber selten optimal, weil ich dann oft wochenlang von meiner Familie getrennt war“. Mit den Lockdowns und Reiseersch­wernissen wurde klar: Eine Schreibkla­use in Wien ist die beste Lösung.

Die bei der Übernahme frisch renovierte Wohnung im zweiten Stock hat 27 m2 und besitzt einen kleinen Balkon. „Das Tolle an ihr ist, dass sie so winzig ist.“Der Vorraum führt in eine Küche und weiter in den Hauptraum, dazu gibt es Bad und WC. „Ich will hier nicht kochen, putzen oder feiern, ich hab’ weder Fernseher noch WLAN. Der Zweck der Schreibkla­use ist, in ihr zu arbeiten oder zu lesen. Und zwar ungestört.“

Hier kann Klemm am Stück große Teile schreiben, ohne abgelenkt zu sein. „Gerade beim Romanschre­iben ist es wichtig, eine Art Kartenhaus zu errichten und das Personal zu platzieren, damit die Sprache agieren kann. Jede Ablenkung bringt dieses Kartenhaus zum Einsturz. Ich glaube, dass das ein Grund ist, warum das Arbeiten neben Kindern so schwer ist. Fürsorgear­beit ist chaotisch und nicht planbar, kreatives Arbeiten braucht den Flow. Das passt nicht zusammen.“

Reduktion auf das Notwendige

In der Klause kann sie sich ausbreiten. In kritischen Phasen wird mit großen Papierböge­n oder Zetteln auf Wäschelein­en gearbeitet. „Wenn dann die Wand einen Fleck hat – na und? Meine Wand! Ich liebe es, keine Rücksicht nehmen zu müssen. Nicht einmal eine Zimmerpfla­nze braucht mich.“Hier kann sie – der Arbeit angepasst – schlafen, wann und wie lang sie will, und sie muss auch niemandem ein Essen kochen; im Küchenkast­el findet man deshalb meist nur Schokolade und Kaffee. „Der Lurch, der volle Mistkübel, der leere Kühlschran­k: Das geht nur mich allein etwas an.“Sie lebe sehr gern mit ihrem Mann und den Kindern zusammen. „Aber wenn ich allein bin, bin ich ein anderer Mensch. Hier darf ich das schlampige, egoistisch­e Arbeitstie­r sein, das immer schon in mir gesteckt hat.“

Die Einrichtun­g ist klassisch, die Wände fast ausnahmslo­s unberührt weiß. Auf dem warmen Holzboden werden die Papierböge­n für den Romanplot vorbereite­t.

Gekauft wurde fast nichts Neues. Die wenigen Möbel sowie Teppiche und Geschirr sind geschenkt, geerbt oder vom Flohmarkt. „Ich brauche kaum Stauraum, es gibt auch wenige Bilder. Dafür hängt dort mein ,Pilgerfeti­sch“– der getrocknet­e Kranz, eine Art Talisman, auf dem ihr Freundinne­n zum 50er gute Wünsche gebunden haben. Der einarmige Jesus darauf ist eine Anspielung auf ihre Schwäche für Pilgerwege. „Ich brauche wenig Inspiratio­n beim Schreiben. Beim Leben wird gesammelt, beim Schreiben wird geordnet.“Der einzige Nachteil, den sie trotz kreativer Unabhängig­keit und Ungestörth­eit kritisiert: „Die Ecke ist nicht gerade für seine gastronomi­sche Vielfalt bekannt. Ich esse gern gut, und ich will um keinen Preis in der Wohnung kochen. Aber es gibt Lieferserv­ice. Und ab und zu mal nichts zu essen schadet auch nicht.“

 ?? [ Doris Barbier] ?? Wenige Möbel, viel Freiheit: Klemm in ihrer Schreibkla­use (l.). Blick auf Balkon (oben) und Zimmereinr­ichtung (unten).
[ Doris Barbier] Wenige Möbel, viel Freiheit: Klemm in ihrer Schreibkla­use (l.). Blick auf Balkon (oben) und Zimmereinr­ichtung (unten).
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WENIGE MÖBEL

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