Die Führung des Landes wird von einer Reihe von Korruptionsskandalen erschüttert, die auch das Verteidigungsministerium treffen. Selenskij ist gezwungen, Vizeminister und Gouverneure abzusetzen.
Warschau. Es ist ein schwerer innenpolitischer Schlag für Wolodymyr Selenskij: Nach einer Kabinettssitzung der Regierung der „Diener des Volkes“hat der Staatspräsident jeden Fünften seiner wichtigen Regionalvertreter verloren. Das Kabinett des von ihm im Sommer 2019 eingesetzten Regierungschefs, Denys Schmyhal, setzte mit sofortiger Wirkung die Gouverneure der Oblasts Cherson, Saporischschje, Dnipro, Kiew und Sumy wegen mutmaßlicher Korruption ab. Zugleich wurden sechs Vizeminister (in den Ministerien Verteidigung, Regionalentwicklung, Soziales, Digitalisierung und Fluss- und Meerestransport) aus demselben Grund entlassen.
Teils hatten die Betroffenen selbst um eine Freistellung gebeten, wie etwa Vizeverteidigungsminister Wjatscheslaw Schapowalow. Er soll wesentlich an einer internen Reform des Beschaffungswesens mitgearbeitet haben, doch dann lief offenbar etwas schief.
Damit ist elf Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eines der Hauptprobleme des postsowjetischen Landes, nämlich die endemische Korruption seit der Unabhängigkeit von 1991, wieder an die
Oberfläche gekommen. Lang war zuvor die Innenpolitik praktisch eingeschlafen, die Kritik an der „Volksdiener“-Regierung Selenskijs war zugunsten der Landesverteidigung verstummt, selbst profilierte Antikorruptionsaktivisten traten leise. Befördert wurde das durch die „Nationalen Einheitsnachrichten“, ein gemeinsames TV-Programm vieler großer Fernsehsender, darunter auch eines neuen, Selenskij-nahen Fernsehsenders, der offensichtlich dessen erfolgreiche Wiederwahl im Frühling 2024 fördern soll.
Bestechungsgelder bei Generatoren
Aufgebrochen war das Thema Korruption am Wochenende, als ein Vizeminister im Regionalministerium von Beamten des Nationalen Antikorruptionsbüros plötzlich festgenommen wurde. Wasyl Loschinski wird vorgeworfen, Bestechungsgelder in der Höhe von 400.000 Dollar angenommen zu haben, um für die 24 Oblasten (Gebietseinheiten) der Ukraine Dieselgeneratoren zum überhöhten Preis zu beschaffen. Solche Generatoren sind nach mehr als drei Monaten russischer Bombardierungen von Kraftwerken, Umspannstationen und Heizwerken besonders wichtig geworden, gerade auch bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius in der Ostukraine. Vizeminister Loschinski wurde noch am Montag entlassen, am Dienstag folgten ihm sechs weitere Kollegen, allesamt Mitglieder der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“, die nach Selenskijs Willen und Auswahlkriterien neue, nicht korrumpierte Kräfte vereinigen soll mit dem Ziel, die Ukraine grundlegend zu erneuern.
Die „Diener des Volkes“sind Neu-Politiker, die vorher keiner Partei angehört haben dürfen. Allerdings hat eben das Klientelwesen in der Ukraine eine lange Tradition, und Abgeordnete, die aus rein idealistischen Gründen in nationale oder regionale Parlamente einziehen wollen, sind auf allen EbenenrareAusnahmen.
Korruption als „Russlands Verbündete“
Das Kie wer Anti-Corruption Action Center des bekannten Bürgeraktivisten Witali Schabunin, eines Antikorruptionskämpfers der Maidan-Generation von 2014, sieht in ihrem aktuellen Jahresbericht dennoch nicht alles schlecht: Trotz des Krieges seien 2022 mehr korrupte Spitzenbeamte und -politiker bestraft worden als noch 2021, stellen die Korruptionsbekämpfer fest. Vor allem ist es nach zwei Jahre langem Gezerre dank erheblichen inter nationalen Drucks end lich gelungen, mit Oleksandr Klymenko einen Obersten Antikorruptionsrichter zu berufen.
„Die Korruption ist die größte Verbündete Russlands in der Ukraine“, bringt es Aktivist Schabunin auf den Punkt. Ein gutes Beispiel für die seWarnungistderamDienstag nun einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gewordene Essensration-Beschaffungsskandal im Verteidigungsministerium des auch im Westen hochgelobten Ministers Oleksii Resnikow. Mitte Jänner hatte die ukrainische Wochenzeitung „Zerkalo Nedeli“sich die Rechnungen für Militärbezirke in sechs Oblasten angeschaut, die sich über die meiste Zeit weit weg von der Frontlinie befanden – darunter Kiew, Poltawa und Sumy.
Dabei stellte sie fest, dass nicht nur größere Mengen von Lachs eingekauft worden waren, den die Soldaten wohl kaum zu essen bekommen hatten. Sondern auch, dass für Kartoffeln und Eier trotz des Bezugs im Großhandel zweieinhalbmal höhere Preise bezahlt worden waren, als gewöhnliche Konsumenten im Eckladen bezahlen müssen.