Die Finnen öffnen sich für einen Alleingang in die Nato
Eigentlich wollten Schweden und Finnland unbedingt gemeinsam der Nato beitreten. Wegen des eskalierten Streits zwischen Stockholm und Ankara deuten die Finnen nun aber auch öffentlich ein Umdenken an: Ist eine halbe Norderweiterung eine Option?
Wien. So war das nicht geplant. Seit mehr als einem halben Jahr schon sind die Finnen in der „Grauzone“gefangen. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Als „Grauzone“bezeichnen Experten die Übergangsphase zwischen dem Nato-Beitrittsantrag und der Aufnahme in das Bündnis – eine Zeit also, in der man Russland schon mit der Aufgabe der Bündnisfreiheit verärgert, aber zugleich noch keine Nato-Beistandsgarantien erhalten hat.
Die „Grauzone“ist ein ungemütlicher Ort. Die Finnen wollen sie lieber heute als morgen verlassen. Aber das Nato-Mitglied Türkei blockiert die Norderweiterung. Sie weigert sich, die Nato-Beitrittsprotokolle von Finnland und Schweden zu ratifizieren. Der Zorn Erdog˘ans richtet sich dabei vor allem gegen Schweden, weniger gegen Finnland. Die Finnen öffnen sich daher für die Option eines Solos in die Nato.
Nach der jüngsten Eskalation zwischen Ankara und Stockholm erklärte Außenminister Pekka Haavisto, dass Finnland gezwungen sein könnte, einen Nato-Beitritt ohne seinen langjährigen Verbündeten in Betracht zu ziehen. Wobei offen ist, ob sich die Türkei auf eine solche halbe Norderweiterung überhaupt einlassen würde.
Eine 180-Grad-Wende markieren die Aussagen Haavistos nicht. Hinter den Kulissen diskutieren finnische Diplomaten schon länger, ob Helsinki notfalls allein Nato-Mitglied werden sollte, falls Ankara weiter auf stur schaltet. Und Chefdiplomat Haavisto formulierte zweitens sehr vorsichtig. Ein gemeinsamer Beitritt mit Schweden sei nach wie vor die „erste Option“, man müsse aber bereit sein, die Situation neu zu bewerten, wenn sich herausstelle, dass der schwedische Nato-Antrag langfristig festhänge. Mit „langfristig“meint Außenminister Haavisto womöglich die Zeit nach den türkischen Wahlen im Frühjahr.
In Helsinki werden sie allmählich ungeduldig. Ein Beitritt zur Nato ist für Finnland im Zweifel wichtiger als für Schweden. Denn Schweden hat keine Landgrenze zu Russland, Finnland schon. Sie misst 1340 Kilometer. Sie ist die längste Grenze eines EUStaats mit Russland. In Finnland weckte Putins Überfall auf die Ukraine außerdem die traumatische Erinnerung an den „Winterkrieg“gegen die Sowjetunion. Die Gefahr eines konventionellen russischen Angriffs auf Finnland tendiert zurzeit freilich gegen null. Finnland hat eine der größten Reservisten-Armeen Europas. Sein Arsenal an schweren Waffen ist groß und modern. Russland ist durch den Krieg in der Ukraine geschwächt. Außerdem hat Finnland in den Hauptstädten von Nato-Staaten, auch in London und Washington, angeklopft und Sicherheitszusagen für die Übergangsphase eingesammelt, die nie präzise ausbuchstabiert wurden. Auch die anderen Nordeuropäer versicherten Finnland ihren Rückhalt im Falle einer Aggression.
Geostrategische Überlegungen
Mit dem Beitritt zur Nato, auch ein nukleares Bündnis, will Finnland aber langfristig seine Abschreckung verstärken. Die Finnen wollten immer gemeinsam mit Schweden der Nato beitreten. Auch aus geostrategischen Überlegungen heraus. Ein gemeinsamer Beitritt würde Skandinavien in eine einzige Nato-Zone verwandeln. Er würde Verteidigungspläne für Skandinavien aus einem Guss erlauben. Mit Ausnahme der finnischnorwegischen Grenze hoch oben im eisigen Norden ist Finnland nur via Schweden auf dem Landweg mit der Nato verbunden. Im Ernstfall sollte der Nachschub via Schweden erfolgen. Und die Ostsee würde zur NatoBadewanne mit der schwedischen Insel Gotland als wichtigstem Vorposten. Finnland und Schweden sind militärisch eng miteinander verbunden. Auch die Annäherung an die Nato haben sie im Gleichschritt vollzogen. Aber jetzt ändert sich die Lage. Im Dezember ergab eine Umfrage, dass erstmals eine knappe Mehrheit einen Nato-Beitritt ohne Schweden dem Status quo vorziehen würde.
Die mögliche Nato-Norderweiterung ist aus Moskauer Sicht ein Kollateralschaden des Überfalls auf die Ukraine. Der russische Verteidigungsminister, Sergej Schoigu, kündigte neulich einen Umbau der Armee an. Ein Teil der Pläne: die Aufstellung eines Armeekorps in der Teilrepublik Karelien an der Grenze zu Finnland.