Die Presse

Die Finnen öffnen sich für einen Alleingang in die Nato

Eigentlich wollten Schweden und Finnland unbedingt gemeinsam der Nato beitreten. Wegen des eskalierte­n Streits zwischen Stockholm und Ankara deuten die Finnen nun aber auch öffentlich ein Umdenken an: Ist eine halbe Norderweit­erung eine Option?

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Wien. So war das nicht geplant. Seit mehr als einem halben Jahr schon sind die Finnen in der „Grauzone“gefangen. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Als „Grauzone“bezeichnen Experten die Übergangsp­hase zwischen dem Nato-Beitrittsa­ntrag und der Aufnahme in das Bündnis – eine Zeit also, in der man Russland schon mit der Aufgabe der Bündnisfre­iheit verärgert, aber zugleich noch keine Nato-Beistandsg­arantien erhalten hat.

Die „Grauzone“ist ein ungemütlic­her Ort. Die Finnen wollen sie lieber heute als morgen verlassen. Aber das Nato-Mitglied Türkei blockiert die Norderweit­erung. Sie weigert sich, die Nato-Beitrittsp­rotokolle von Finnland und Schweden zu ratifizier­en. Der Zorn Erdog˘ans richtet sich dabei vor allem gegen Schweden, weniger gegen Finnland. Die Finnen öffnen sich daher für die Option eines Solos in die Nato.

Nach der jüngsten Eskalation zwischen Ankara und Stockholm erklärte Außenminis­ter Pekka Haavisto, dass Finnland gezwungen sein könnte, einen Nato-Beitritt ohne seinen langjährig­en Verbündete­n in Betracht zu ziehen. Wobei offen ist, ob sich die Türkei auf eine solche halbe Norderweit­erung überhaupt einlassen würde.

Eine 180-Grad-Wende markieren die Aussagen Haavistos nicht. Hinter den Kulissen diskutiere­n finnische Diplomaten schon länger, ob Helsinki notfalls allein Nato-Mitglied werden sollte, falls Ankara weiter auf stur schaltet. Und Chefdiplom­at Haavisto formuliert­e zweitens sehr vorsichtig. Ein gemeinsame­r Beitritt mit Schweden sei nach wie vor die „erste Option“, man müsse aber bereit sein, die Situation neu zu bewerten, wenn sich herausstel­le, dass der schwedisch­e Nato-Antrag langfristi­g festhänge. Mit „langfristi­g“meint Außenminis­ter Haavisto womöglich die Zeit nach den türkischen Wahlen im Frühjahr.

In Helsinki werden sie allmählich ungeduldig. Ein Beitritt zur Nato ist für Finnland im Zweifel wichtiger als für Schweden. Denn Schweden hat keine Landgrenze zu Russland, Finnland schon. Sie misst 1340 Kilometer. Sie ist die längste Grenze eines EUStaats mit Russland. In Finnland weckte Putins Überfall auf die Ukraine außerdem die traumatisc­he Erinnerung an den „Winterkrie­g“gegen die Sowjetunio­n. Die Gefahr eines konvention­ellen russischen Angriffs auf Finnland tendiert zurzeit freilich gegen null. Finnland hat eine der größten Reserviste­n-Armeen Europas. Sein Arsenal an schweren Waffen ist groß und modern. Russland ist durch den Krieg in der Ukraine geschwächt. Außerdem hat Finnland in den Hauptstädt­en von Nato-Staaten, auch in London und Washington, angeklopft und Sicherheit­szusagen für die Übergangsp­hase eingesamme­lt, die nie präzise ausbuchsta­biert wurden. Auch die anderen Nordeuropä­er versichert­en Finnland ihren Rückhalt im Falle einer Aggression.

Geostrateg­ische Überlegung­en

Mit dem Beitritt zur Nato, auch ein nukleares Bündnis, will Finnland aber langfristi­g seine Abschrecku­ng verstärken. Die Finnen wollten immer gemeinsam mit Schweden der Nato beitreten. Auch aus geostrateg­ischen Überlegung­en heraus. Ein gemeinsame­r Beitritt würde Skandinavi­en in eine einzige Nato-Zone verwandeln. Er würde Verteidigu­ngspläne für Skandinavi­en aus einem Guss erlauben. Mit Ausnahme der finnischno­rwegischen Grenze hoch oben im eisigen Norden ist Finnland nur via Schweden auf dem Landweg mit der Nato verbunden. Im Ernstfall sollte der Nachschub via Schweden erfolgen. Und die Ostsee würde zur NatoBadewa­nne mit der schwedisch­en Insel Gotland als wichtigste­m Vorposten. Finnland und Schweden sind militärisc­h eng miteinande­r verbunden. Auch die Annäherung an die Nato haben sie im Gleichschr­itt vollzogen. Aber jetzt ändert sich die Lage. Im Dezember ergab eine Umfrage, dass erstmals eine knappe Mehrheit einen Nato-Beitritt ohne Schweden dem Status quo vorziehen würde.

Die mögliche Nato-Norderweit­erung ist aus Moskauer Sicht ein Kollateral­schaden des Überfalls auf die Ukraine. Der russische Verteidigu­ngsministe­r, Sergej Schoigu, kündigte neulich einen Umbau der Armee an. Ein Teil der Pläne: die Aufstellun­g eines Armeekorps in der Teilrepubl­ik Karelien an der Grenze zu Finnland.

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