Die westliche Atomindustrie hängt von russischem Uran ab
Uran aus Russland für die EU und USA ist für die westliche Atomindustrie vital, Sanktionen in diesem Bereich sind kein Thema.
Brüssel/Washington. Im niedersächsischen Emsland an der deutsch-niederländischen Grenze dauert der deutsche Atomausstieg etwas länger; nein, nicht wegen des AKWs Emsland, dessen Laufzeit bis Mitte April verlängert worden ist. Sondern wegen der Brennelementefabrik, die (wie auch die Urananreicherungsanlage in Gronau) vom Ausstieg überhaupt ausgeklammert worden ist. Kürzlich war das AKW mit Ablaufdatum heruntergefahren worden, um die Brennelemente umzuschichten (um den „Streckbetrieb“überhaupt erst möglich zu machen) – und Schauplatz einer Demonstration von Atomkraftgegnern. Der Protest richtet sich nicht gegen das AKW allein – sondern auch gegen die Brennelementefabrik Lingen.
Diese wird von Framatome betrieben, das im Mehrheitseigentum der Eléctricité de France (EdF) steht, die wiederum zu 84 Prozent im Eigentum des französischen Staates steht. Seit Jahrzehnten arbeiten die Franzosen eng mit dem russischen Konzern Rosatom zusammen. Sowohl EdF als auch Rosatom sind auf dem Weltmarkt für Atomkraftwerke dominante Player. Hier geht es nicht nur um Planung und Bau der Kraftwerke, sondern um den Grundstoff für diese Aktivitäten: um das Uran. Und das kommt zu einem erheblichen Teil aus Russland und Kasachstan. Die kasachischen Uranminen stehen zu einem Gutteil in russischem Besitz. Rosatom ist ein weltweit verzweigter Atomkonzern in russischem Staatseigentum, entstanden aus dem ehemaligen Atomministerium.
90.000 in der Atomwaffenindustrie
Das österreichische Umweltbundesamt hat eine Analyse des russischen Konzerns ausgearbeitet. Demnach habe der Konzern weltweit etwa 275.000 Mitarbeiter; 90.000 von ihnen seien im russischen Kernwaffenkomplex tätig. Rosatom ist weit verzweigt und umfasst etwa 300 Unternehmen. Umsatz 2020: 17,5 Milliarden Euro.
In Europa ist der russische Konzern stark verankert, schon allein durch die Atomkraftwerke im mittleren Osteuropa: Die Atommeiler in der Tschechischen Republik sind russischen Designs, ebenso jene in der Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Lettland. Hier bedarf es russischer Brennstäbe – im tschechischen AKW Temel´ın hat es einen Versuch mit Westinghouse-Brennstäben gegeben, wobei allerdings Probleme aufgetaucht sind; es wurde wieder auf russische Brennstoffe umgesattelt. Betreiber dieser Kraftwerke sind jedenfalls in hohem Maße auf Ersatzteile aus Russland angewiesen. Außerdem hat Ungarn mit Rosatom vereinbart, in Paks das bestehende Atomkraftwerk zu erweitern. Federführend soll Rosatom sein, den russischen Staatskredit zur Finanzierung haben (noch vor Kriegsbeginn) Ungarns Premier Orbán und der russische Präsident Putin ausgehandelt.
Urananreicherung wird zu einem guten Viertel von den Rosatom-Töchtern Tenex und TVEL durchgeführt; das Uran selbst, das für europäische Atomanlagen benötigt wird, kommt zu einem Fünftel aus russischen Uranminen und zu 19 Prozent aus Kasachstan. In den Rosatom-Konzern wurde auch die deutsche Nukem Technologies GmbH übernommen, die bei Rückbau, Management radioaktiver Abfälle und Ingenieurtechnik tätig ist.
In den USA, die mehr als 90 Prozent des für den Betrieb der Atomkraftwerke nötigen Urans importieren, besteht eine noch höhere Abhängigkeit von Rosatom. Die US Energy Information Administration meldet, dass 14 % des Urans aus Russland stammen und 35 % aus Kasachstan, zusammen also fast die Hälfte des Bedarfs (2021).
US-Liefervertrag läuft bis 2040
Die USA haben 1992 einen Vertrag über Uranlieferungen mit dem russischen Atomministerium (MiniAtom), aus dem Rosatom hervorgegangen ist, geschlossen. Im Oktober 2020 wurde der Vertrag letztmals geändert; unter anderem wird die Importmenge aus Russland gedeckelt. Der Deckel lag 2022 bei 20 %, steigt heuer auf 24 % und sinkt ab 2028 auf 15 %. Der Vertrag läuft bis 2040.
Zentrale Rolle spielt der Konzern Uranium One, in den Rosatom seit den 1990er-Jahren Schritt für Schritt einstieg. Das Unternehmen mit Sitz in Kanada ist mittlerweile zur Gänze Teil des RosatomUniversums. Uranium One besitzt Uranminen in Kasachstan, Namibia und Tansania, besaß bis 2021 welche in den USA, ist in Italien mit Biotreibstoffen und im Lithiumabbau in Argentinien präsent.
Von Sanktionen gegen den Atom-Multi ist keine Rede. Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin heißt es dazu: „Derzeit besteht kein Ein- oder Ausfuhrembargo der EU gegen Russland für Kernbrennstoffe zur friedlichen Nutzung. Auch erweiterte Deklarationspflichten sind aktuell nicht vorgesehen.“Und das US State Department: „Grundsätzlich spekulieren wir nicht über etwaige künftige Sanktionen.“
Kooperation trotz Krim-Annexion
Zurück nach Niedersachsen, zurück zum Protest vom Wochenende, der sich gegen das Zusammenrücken von Framatome und Rosatom richtet. Wie tief das geht, ist nicht klar: Es gibt einerseits Uranimporte, die direkt aus Russland bzw. Kasachstan nach Lingen gebracht werden. Sie scheinen in der Statistik auf. Durchaus üblich ist aber auch, dass AKW-Betreiber das Uran selbst kaufen; dann verwischen sich Spuren. Die Demonstranten wollen jedenfalls, dass das Werk in Lingen zusperrt.
Framatome dagegen liebäugelt mit einer Betriebserweiterung. 2017, drei Jahre nach der Annexion der Krim durch Russland, haben die beiden Atomriesen ein Memorandum über Zusammenarbeit unterzeichnet, im Dezember 2021 dann ein „strategisches Kooperationsabkommen“geschlossen. Und nun, im Winter 2022/23 möchte Framatome, Hand in Hand mit Rosatom, das Business der Brennelementefabrik ausweiten.
Sanktionen sehen anders aus.