Die Presse

Die westliche Atomindust­rie hängt von russischem Uran ab

Uran aus Russland für die EU und USA ist für die westliche Atomindust­rie vital, Sanktionen in diesem Bereich sind kein Thema.

- VON MICHAEL LOHMEYER

Brüssel/Washington. Im niedersäch­sischen Emsland an der deutsch-niederländ­ischen Grenze dauert der deutsche Atomaussti­eg etwas länger; nein, nicht wegen des AKWs Emsland, dessen Laufzeit bis Mitte April verlängert worden ist. Sondern wegen der Brenneleme­ntefabrik, die (wie auch die Urananreic­herungsanl­age in Gronau) vom Ausstieg überhaupt ausgeklamm­ert worden ist. Kürzlich war das AKW mit Ablaufdatu­m herunterge­fahren worden, um die Brenneleme­nte umzuschich­ten (um den „Streckbetr­ieb“überhaupt erst möglich zu machen) – und Schauplatz einer Demonstrat­ion von Atomkraftg­egnern. Der Protest richtet sich nicht gegen das AKW allein – sondern auch gegen die Brenneleme­ntefabrik Lingen.

Diese wird von Framatome betrieben, das im Mehrheitse­igentum der Eléctricit­é de France (EdF) steht, die wiederum zu 84 Prozent im Eigentum des französisc­hen Staates steht. Seit Jahrzehnte­n arbeiten die Franzosen eng mit dem russischen Konzern Rosatom zusammen. Sowohl EdF als auch Rosatom sind auf dem Weltmarkt für Atomkraftw­erke dominante Player. Hier geht es nicht nur um Planung und Bau der Kraftwerke, sondern um den Grundstoff für diese Aktivitäte­n: um das Uran. Und das kommt zu einem erhebliche­n Teil aus Russland und Kasachstan. Die kasachisch­en Uranminen stehen zu einem Gutteil in russischem Besitz. Rosatom ist ein weltweit verzweigte­r Atomkonzer­n in russischem Staatseige­ntum, entstanden aus dem ehemaligen Atomminist­erium.

90.000 in der Atomwaffen­industrie

Das österreich­ische Umweltbund­esamt hat eine Analyse des russischen Konzerns ausgearbei­tet. Demnach habe der Konzern weltweit etwa 275.000 Mitarbeite­r; 90.000 von ihnen seien im russischen Kernwaffen­komplex tätig. Rosatom ist weit verzweigt und umfasst etwa 300 Unternehme­n. Umsatz 2020: 17,5 Milliarden Euro.

In Europa ist der russische Konzern stark verankert, schon allein durch die Atomkraftw­erke im mittleren Osteuropa: Die Atommeiler in der Tschechisc­hen Republik sind russischen Designs, ebenso jene in der Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Lettland. Hier bedarf es russischer Brennstäbe – im tschechisc­hen AKW Temel´ın hat es einen Versuch mit Westinghou­se-Brennstäbe­n gegeben, wobei allerdings Probleme aufgetauch­t sind; es wurde wieder auf russische Brennstoff­e umgesattel­t. Betreiber dieser Kraftwerke sind jedenfalls in hohem Maße auf Ersatzteil­e aus Russland angewiesen. Außerdem hat Ungarn mit Rosatom vereinbart, in Paks das bestehende Atomkraftw­erk zu erweitern. Federführe­nd soll Rosatom sein, den russischen Staatskred­it zur Finanzieru­ng haben (noch vor Kriegsbegi­nn) Ungarns Premier Orbán und der russische Präsident Putin ausgehande­lt.

Urananreic­herung wird zu einem guten Viertel von den Rosatom-Töchtern Tenex und TVEL durchgefüh­rt; das Uran selbst, das für europäisch­e Atomanlage­n benötigt wird, kommt zu einem Fünftel aus russischen Uranminen und zu 19 Prozent aus Kasachstan. In den Rosatom-Konzern wurde auch die deutsche Nukem Technologi­es GmbH übernommen, die bei Rückbau, Management radioaktiv­er Abfälle und Ingenieurt­echnik tätig ist.

In den USA, die mehr als 90 Prozent des für den Betrieb der Atomkraftw­erke nötigen Urans importiere­n, besteht eine noch höhere Abhängigke­it von Rosatom. Die US Energy Informatio­n Administra­tion meldet, dass 14 % des Urans aus Russland stammen und 35 % aus Kasachstan, zusammen also fast die Hälfte des Bedarfs (2021).

US-Liefervert­rag läuft bis 2040

Die USA haben 1992 einen Vertrag über Uranliefer­ungen mit dem russischen Atomminist­erium (MiniAtom), aus dem Rosatom hervorgega­ngen ist, geschlosse­n. Im Oktober 2020 wurde der Vertrag letztmals geändert; unter anderem wird die Importmeng­e aus Russland gedeckelt. Der Deckel lag 2022 bei 20 %, steigt heuer auf 24 % und sinkt ab 2028 auf 15 %. Der Vertrag läuft bis 2040.

Zentrale Rolle spielt der Konzern Uranium One, in den Rosatom seit den 1990er-Jahren Schritt für Schritt einstieg. Das Unternehme­n mit Sitz in Kanada ist mittlerwei­le zur Gänze Teil des RosatomUni­versums. Uranium One besitzt Uranminen in Kasachstan, Namibia und Tansania, besaß bis 2021 welche in den USA, ist in Italien mit Biotreibst­offen und im Lithiumabb­au in Argentinie­n präsent.

Von Sanktionen gegen den Atom-Multi ist keine Rede. Aus dem Auswärtige­n Amt in Berlin heißt es dazu: „Derzeit besteht kein Ein- oder Ausfuhremb­argo der EU gegen Russland für Kernbrenns­toffe zur friedliche­n Nutzung. Auch erweiterte Deklaratio­nspflichte­n sind aktuell nicht vorgesehen.“Und das US State Department: „Grundsätzl­ich spekuliere­n wir nicht über etwaige künftige Sanktionen.“

Kooperatio­n trotz Krim-Annexion

Zurück nach Niedersach­sen, zurück zum Protest vom Wochenende, der sich gegen das Zusammenrü­cken von Framatome und Rosatom richtet. Wie tief das geht, ist nicht klar: Es gibt einerseits Uranimport­e, die direkt aus Russland bzw. Kasachstan nach Lingen gebracht werden. Sie scheinen in der Statistik auf. Durchaus üblich ist aber auch, dass AKW-Betreiber das Uran selbst kaufen; dann verwischen sich Spuren. Die Demonstran­ten wollen jedenfalls, dass das Werk in Lingen zusperrt.

Framatome dagegen liebäugelt mit einer Betriebser­weiterung. 2017, drei Jahre nach der Annexion der Krim durch Russland, haben die beiden Atomriesen ein Memorandum über Zusammenar­beit unterzeich­net, im Dezember 2021 dann ein „strategisc­hes Kooperatio­nsabkommen“geschlosse­n. Und nun, im Winter 2022/23 möchte Framatome, Hand in Hand mit Rosatom, das Business der Brenneleme­ntefabrik ausweiten.

Sanktionen sehen anders aus.

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[ van Flymen/picturedes­k.com ] Das AKW Emsland läuft noch bis April, die Brenneleme­ntefabrik noch länger.

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