Vŭcíc weicht harte Kosovo-Linie auf
Der serbische Präsident signalisiert, dass er den EU-Vorschlag für einen Kompromiss mit dem Kosovo annehmen könnte. Doch er stößt damit im eigenen Land auf Skepsis – und Kritik.
Belgrad. Die Ouvertüre zur unerwarteten Kehrtwende übernahm Serbiens mächtiger Staatschef Aleksandar Vučić persönlich. Es sei „nicht leicht, an dem Papier irgendetwas Erfreuliches zu finden – im Gegenteil“, kommentierte er in einer Pressekonferenz am Montagabend den ihm von der EU und den USA präsentierten Entwurf für ein Abkommen mit dem Kosovo. Doch bei dessen Ablehnung drohe Serbien der Abbruch der EU-Integration, die Wiedereinführung der Schengenvisapflicht und der Abzug von Investitionen: „Ohne den europäischen Weg wären wir wirtschaftlich und politisch verloren“, sagte der Präsident.
Statt auf Aussöhnung und Verständigung setzen die ehemaligen Kriegsgegner Serbien und der Kosovo seit Jahren auf eine Politik der Nadelstiche und Dauerspannungen. Belgrad erkennt die Eigenstaatlichkeit der Ex-Provinz Kosovo, die sich im Februar 2008 für unabhängig erklärte, nicht an. Und Serbien blockiert mit Hilfe Russlands hartnäckig den Zutritt des Kosovo zu internationalen Organisationen wie der UNO, Unesco oder Interpol. Umgekehrt verwehrt die Kosovo-Regierung in Prishtina der serbischen Minderheit die bereits 2013 vertraglich zugesicherte Schaffung eines Verbands der serbischen Kommunen.
Die jahrelangen Versuche Brüssels, die unwilligen Nachbarn mit Hilfe eines von der EU moderierten Dialogs zur Normalisierung ihrer Beziehungen zu bewegen, haben wenig gebracht. Nun zieht der Westen vor allem dem EU-Anwärter Serbien die Daumenschrauben an – auch weil sich die Führung in Belgrad hartnäckig weigert, sich den Sanktionen gegen Russland wegen des Ukrainekrieges anzuschließen.
Die geopolitische Lage habe sich geändert, „Europa ist im Krieg, die Nervosität ist groß“– mit Worten wie diesen versucht Vučić, der serbischen Bevölkerung die Notwendigkeit für einen „Kompromiss“zu erläutern.
Vorwurf des „Verrats“
Doch bisher hatten Vučić, seine nationalpopulistische Partei SNS und die regierungsnahen Gazetten ihre Landsleuten im Kampf gegen Prishtina stets gebetsmühlenhaft auf die „roten Linie“der Nichtanerkennung der längst verlorenen Ex-Provinz Kosovo eingeschworen. Nicht nur Oppositionsparteien aus dem rechtsnationalen Lager sprechen nun von „Verrat“. Auch SNS-Politiker sollen sich hinter verschlossenen Türen gegen den von Vučić als unumgänglich forcierten Kurswechsel ausgesprochen haben.
Tatsächlich steht der Vertragsentwurf des von der EU ventilierten, sogenannten „deutsch-französischen Plans“im völligen Gegensatz zur bisherigen Kosovo-Politik Belgrads. So sieht dieser die gegenseitige Anerkennung von Pässen, Staatssymbolen und Zollpapieren vor, spricht von gleichberechtigten Beziehungen und erwähnt ausdrücklich, dass Serbien den Zutritt Kosovos zu internationalen Organisationen „nicht verhindern“dürfe.
Das Abkommen würde die faktische Anerkennung des Kosovo durch Belgrad bedeuten, sagt der Analyst Bosˇko Jaksˇić. Belgrad könnte damit einerseits den größten Stolperstein in den Beziehungen zum Westen aus dem Weg räumen und sich andererseits aus der Abhängigkeit von Russland „losreißen“. Doch der Präsident drohe dabei zur „Geisel“seiner Politik des vergangenen Jahrzehnts zu werden: „Vučic weiß nicht, wie er seine Wende erklären soll, die im völligen Gegensatz steht zu dem von ihm geformten Meinungsbild. Er hat sich selbst in eine Position gebracht, aus der es ihm nun schwer fällt, wieder herauszukommen.“
Referendum in Serbien?
Zwar unterstützen selbst die fünf EU-Länder, die die Eigenstaatlichkeit des Kosovo nicht anerkennen, den Vertragsentwurf. Doch nicht nur wegen der Widerstände in Serbien ist eine Umsetzung des Abkommens keineswegs gewiss. Auch Kosovos wenig flexibler Premier Albin Kurti müsste kräftig Zugeständnisse machen. Zudem schließt Vučić die Möglichkeit eines Referendums über das Abkommen nicht aus: Laut Umfragen soll einer Mehrheit das Festhalten an den serbischen Ansprüchen auf Kosovo wichtiger sein als die vage Aussicht auf einen EU-Beitritt.