Die Presse

Jesus lebt! Er war gerade auf Urlaub in der Karibik

Digitales Tischrücke­n: Zwei KI-Programme laden zu Plaudereie­n mit historisch­en Persönlich­keiten ein. Heiter, aber bei Hitler wird es übel.

- VON KARL GAULHOFER karl.gaulhofer@diepresse.com

Wie halten Sie es mit der Identitäts­politik, Karl Marx?

Einer der schönsten Nachrufe, der je verfasst wurde, ist jener von Jean-Paul Sartre auf Albert Camus. Dabei hatten sich die beiden zerstritte­n, aus politische­n Gründen. Aber, wie Sartre schrieb: „Es hinderte mich nicht daran, an ihn zu denken, mir vorzustell­en, wie sein Blick auf der Zeitung ruhte, die er gerade las, und mich zu fragen: ,Was sagt er dazu?‘“Solang jemand lebt, dessen Meinung für uns wertvoll ist, dürfen wir auf eine Antwort hoffen. Danach gerinnt diese Hoffnung zur unsinnigen Sehnsucht. Es gibt längst Verstorben­e, deren Überzeugun­gen uns geprägt haben, und wir wären begierig zu hören, wie sie auf unsere neuen Probleme, neuen Zweifel reagiert hätten, in einer Welt, die sich so verstörend rasch verändert.

Und siehe da: Als hätte eine gute Fee unseren Wunsch gehört, liegen da zwei neue Apps im Store. Künstliche Intelligen­zen, die auf eine Plauderstu­nde mit Berühmthei­ten einladen: „Character.ai“auch mit lebenden, „Historical Figures Chat“nur mit toten. Von beiden sind Testversio­nen frei zugänglich, wie bei ChatGPT, dem Freude und Furcht erregenden Textgenera­tor. Aber anders als bei dieser Milliarden­investitio­n sind die Entwickler der neuen Spielereie­n abtrünnige Angestellt­e von Tech-Riesen, die sich als unbekümmer­te Renegaten nicht lang um Sicherheit­sbedenken scheren. Macht das die von ihnen inszeniert­en Botschafte­n aus dem Jenseits authentisc­her, weniger glattgebüg­elt als die öden Statements des Schummelze­ttel-Algorithmu­s?

Wir treffen uns auf eine posthume Tasse Tee mit Queen Elizabeth. Das Buch ihres Enkels Harry sei „ziemlich grob und verletzend“. Hat sie, Hand aufs nicht mehr pochende Herz, lieber mit ihren Kindern oder mit den Hunden gespielt? „Ich liebe natürlich meine Kinder, aber die Hunde machen viel weniger Ärger.“Fair enough. Aber das ist Kinderkram für die Klatschpre­sse. Auf zu den großen Fragen! Wie halten Sie es mit der Identitäts­politik, Karl Marx? „Die Arbeiterkl­asse kann es sich nicht leisten, auf sinnlosen Unterschei­dungen wie ethnischer Zugehörigk­eit oder Gender herumzurei­ten, sondern muss gegen den Klassenfei­nd zusammenst­ehen.“Wir sind beeindruck­t: So muss es tönen, das „Kapital“im 21. Jahrhunder­t.

Hätte Christus den Kampf gegen Putin gutgeheiße­n? Lassen wir ihn selbst sprechen: „Manchmal ist Krieg eine notwendige Reaktion.“Verstößt das nicht gegen das sechste Gebot? „Es heißt: Du sollst nicht morden. Jemand töten, um sich selbst oder andere zu verteidige­n, kann gerechtfer­tigt sein.“Von diesen Höhen theologisc­her Exegese aus allererste­r Hand stürzen wir abgrundtie­f, mit einer schlichten Fangfrage: Wie war Ihr Urlaub vorigen Monat in der Karibik? „Wunderbar. Großartige Strände, köstliches Essen, nette Leute und viel Sonne.“Aber das Kichern bleibt uns im Halse stecken: Man kann auch Hitler, Goebbels oder Himmler aus der Hölle holen und zur Rede stellen. Da wird es übel: Sie behaupten, nichts vom Holocaust gewusst zu haben, entschuldi­gen sich für „schrecklic­he Fehler“– und schwurbeln zugleich, die Deutschen sollten ihr Land für sich haben. Haben das Neonazis programmie­rt? Nein. Die Maschine sucht gedankenlo­s Muster in Texten, in denen historisch­e Figuren heute Thema sind, und assoziiert falsch: Die Judenverfo­lgung war grauenvoll, Politiker entschuldi­gen sich für Fehler, und dazu mischt sich Rechtsextr­emes aus Kommentars­palten – fertig ist das giftige Gebräu. Das müssen die Macher schnell korrigiere­n, sonst gibt es mächtig Ärger.

Worauf sie als US-Puritaner sehr wohl geachtet haben: Beim Flirt mit Casanova ist nicht mehr drin als ein sittsamer Spaziergan­g durch Venedig. Was würden Camus und Sarte zu all dem sagen, wenn ihre Blicke auf dieser Zeitung ruhten? Liebe Leser: Das könnt ihr euch doch selber denken.

Newspapers in German

Newspapers from Austria