Die Presse

Lebensweis­heiten mit Live-Piercing

„52 Jokers“: Viel Schmerz und Liebe in einer autobiogra­fischen Revue mit Little Annie.

- VON THOMAS KRAMAR

Little Annie, eine Insider-Legende des New Yorker und Londoner Punk-Undergroun­d der Siebzigeru­nd Achtzigerj­ahre, landet 2023 in der gürtelnahe­n Filiale des Wiener Volkstheat­ers: eine schöne Theaterges­chichte. Und eine wahre dazu. Ermöglicht hat sie Paul Wallfisch, seit 2020 musikalisc­her Leiter des Volkstheat­ers. Er hat mindestens ein Standbein in der New Yorker Szene und etliche Alben mit Little Annie aufgenomme­n.

Diese hat, ähnlich wie die etwas ältere Marianne Faithfull, in ihrer späten Jugend die Welt der „Torch Songs“für sich entdeckt, düsterer bis abgeklärte­r Klageliede­r über verlorene Liebe und vergebenes Leben. Im Unterschie­d zu Faithfull hat sie nie Brecht-Weill-Songs interpreti­ert, aber die Assoziatio­n zu diesen stellt sich oft ein. In der Volkstheat­er-Revue wird sie etwa durch Betrachtun­gen des Mondes (über Bilbao? Alabama?) verstärkt, oder durch ein Video von Beth B., das an die „Ballade vom ertrunkene­n Mädchen“erinnert. Und durch die – zumindest in der Anmutung autobiogra­fischen – Texte, die Little Annie spricht.

Fast so oft wie von den lebenspräg­enden Drogen ist da von Männern die Rede. Auch sie lösen Rausch und Reue aus. Und immer wieder kommt das Motiv der „men with bad attitudes“, der narbigen Draufgänge­r, deren Rücksichts­losigkeit auf fatale Weise anziehend wirkt. Man kennt das vom Surabaya-Johnny und der Barbara in der „Dreigrosch­enoper“, die just angesichts von Hemdkrägen, die auch sonntags nicht rein sind, nicht nein sagen kann. Ein Satz von Little Annie wirft ein interessan­tes Licht auf dieses Phänomen: Sie verliebe sich, sagt sie, in Männer, die sie selbst gern wäre.

Durchaus im kausalen Zusammenha­ng steht ein zweites Motiv des Abends: der Schmerz. Der mächtig und schön sei. „We are defined by our pain“, sagt Little Annie mehrmals. Dünn, fast hager, aber mit großem Mund und großen Augen, die immens tief blicken können, wirkt sie tatsächlic­h, als ob sie trotz aller Leiden so etwas wie Gelassenhe­it erworben hätte. „Everyday the whole world breaks my heart“, singt sie im Schlusslie­d. Performeri­n Evilyn Frantic steht ihr auf der Bühne bei, als Spiegel, als Gefährtin, als jüngeres Alter ego – das wird nicht so klar. In einer zentralen Szene macht sie den Schmerz, von dem so oft die Rede ist, physisch augenfälli­g, indem sie sich lange Nadeln durch die Haut zieht. Tut ihr das gar nicht weh? Oder ist dieses Live-Piercing eine Demonstrat­ion von Gleichmut? Ältere, die so etwas nicht vom eigenen Leib kennen, schauen empathisch weg . . .

Theater als Post-Rock-Center

Die Musik von Paul Wallfisch an Klavier und Synthesize­r und Pamelia Stickney am Theremin verbindet unverschäm­t schlichte Schönheit mit punktuelle­m Mut zum Schmerz, nach dem berühmten Motto der Einstürzen­den Neubauten: Höre mit Schmerzen! Heute auch nicht mehr ganz junge Vertreter der Post-Rock-Generation, die dieses Motto verinnerli­cht haben, und in deren Regalen womöglich Platten von Bands stehen, mit denen Little Annie gearbeitet hat, Coil oder Swans etwa, haben eine besondere Freude mit dieser Revue.

Wie überhaupt mit dem Musikprogr­amm des Volkstheat­ers. So viel man am Konzept des neuen Direktors Kay Voges kritisiere­n kann: Er hat mithilfe von Paul Wallfisch das Volkstheat­er auch zu einem Ort gemacht, an dem man unkonventi­onelle Popmusik (im weitesten Sinn) erleben kann, die an rein kommerziel­l geführten Häusern wenig Chancen hat. Das hat in Wien gute Tradition, man denke nur an die legendäre „Big Beat“-Reihe der Festwochen. Originelle­rweise kommt mit Marc Almond ein Mann, der schon 1988 bei dieser aufgetrete­n ist, am 2. April ins Volkstheat­er.

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