Die Presse

Der Moderne entkam man vor 100 Jahren mit der Dampflok

Wer da meint, Künstler hätten es leicht, wenn ästhetisch (wieder) alles möglich ist, sollte ein Jahrhunder­t zurückblic­ken. Das rückt vieles zurecht.

- VON WILHELM SINKOVICZ E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Nicht alle wollten Schönbergs Hilfsleite­r erklimmen.

Alles ist möglich. Seit die sogenannte Postmodern­e uns den Befreiungs­schlag von sämtlichen Doktrinen und „Ismen“beschert hat, dürfen sich Künstler wieder frei im Raum der Fantasie bewegen, ohne Gefahr zu laufen, sofort von ästhetisch­en Vordenkern in die Schranken gewiesen zu werden. Das Leben ist aber nicht immer leicht, wenn die Landschaft nach allen Richtungen offen ist und keine Wegweiser dastehen. Streng nach Vorschrift der herrschend­en Gesetze lässt sich ja auch ohne Einfall etwas produziere­n, was dann immerhin seine Existenzbe­rechtigung daraus bezieht, dass ja eben nach Vorschrift gearbeitet wurde.

Also, sagen wir’s salopp, wenn einem nichts einfällt, ist man ohne Schablonen verloren. Ein Blick zurück lehrt, dass vor genau 100 Jahren die Komponiste­n der damaligen Avantgarde vor demselben Problem standen. 1923 schrieb eigentlich nur der originelle Edgar Varèse Musik, die überhaupt nicht an althergebr­achten oder ringsum in der aktuellen Szene vorgefunde­nen Mustern orientiert war, sondern im wahrsten Sinne des Wortes „unerhört“war: „Hyperprism“hieß das Stück für neun Bläser und sieben Schlagwerk­er. Der Komponist versuchte, Klänge einmal zu behandeln wie Licht, das durch Prismen strahlt.

Entspreche­nd verwirrend und sozusagen ewig modern klingt das Stück bis heute. Wenn es klingt. Varèses Musik wird kaum aufgeführt. Rings um ihn herrschte Irritation. Igor Strawinsky hatte in seiner Not, sich und seine Klangwelt von Werk zu Werk neu erfinden zu müssen, 1920 schon damit begonnen, barocke Concerti mit ein wenig Dissonanze­n zu pfeffern und, originell instrument­iert, als Ballettmus­ik zu „Pulcinella“herauszubr­ingen. Schönberg hatte gerade seine Zwölftonme­thode als gigantisch­es Kletterger­üst in den „atonalen“Raum gestellt, weil dort die altgewohnt­en harmonisch­en Gesetze, also sozusagen die Dur-Moll-Schwerkraf­t, nicht mehr wirkten.

Hanns Eisler verließ 1923 gerade Schönbergs Kompositio­nsklasse und tappte in seiner Klavierson­ate noch im tonartfrei­en Dunkeln, wo er Schönbergs zwölfspros­sige Hilfsleite­r offenbar nicht finden konnte.

Da wollten ohnehin nicht alle hinaufklet­tern. Der Franzose Darius Milhaud hörte sich in Harlem um und schuf „La creation du monde“, indem er Jazz-Elemente mit klassische­n Kompositio­nsstruktur­en amalgamier­te. Der Jazz spukt auch in der originelle­n Violinsona­te, an der Maurice Ravel gerade zu arbeiten begann.

Die beiden großen Ungarn suchten lieber Halt bei der echten Volksmusik: Zoltán Kodálys „Psalmus hungaricus“verknüpft magyarisch­e Weisen mit Rückgriffe­n auf die ältesten mitteleuro­päischen Gesänge, Béla Bartók feierte den 50. Jahrestags der Vereinigun­g von Buda und Pest mit einer „Tanzsuite“, deren Melodien und Rhythmen sich an folklorist­ischen Klängen aus Südosteuro­pa und Vorderasie­n orientiert­en.

Und Arthur Honegger veröffentl­ichte 1923 seine pittoreske akustische Nacherzähl­ung einer Fahrt mit einer riesigen Dampflokom­otive, „Pacific 231“. Später war es ihm peinlich und er versuchte, eine abstrakter­e Beschreibu­ng dieses Stücks unter die Leute zu bringen. Aber das nützt nichts, natürlich hört man es zischen und ächzen und quietschen, ehe der Zug im Höllentemp­o durchs Land rast. Ins Ungewisse.

Darum ist mir das gerade eingefalle­n: Bis heute müssen sich Komponiste­n immer einen neuen Schmäh einfallen lassen, wenn sie uns bei Laune halten wollen. Symphonie Nr. X gibt’s nicht mehr. Wie lautet der nächste Titel, der einer Novität Aufmerksam­keit garantiert?

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