Der Moderne entkam man vor 100 Jahren mit der Dampflok
Wer da meint, Künstler hätten es leicht, wenn ästhetisch (wieder) alles möglich ist, sollte ein Jahrhundert zurückblicken. Das rückt vieles zurecht.
Nicht alle wollten Schönbergs Hilfsleiter erklimmen.
Alles ist möglich. Seit die sogenannte Postmoderne uns den Befreiungsschlag von sämtlichen Doktrinen und „Ismen“beschert hat, dürfen sich Künstler wieder frei im Raum der Fantasie bewegen, ohne Gefahr zu laufen, sofort von ästhetischen Vordenkern in die Schranken gewiesen zu werden. Das Leben ist aber nicht immer leicht, wenn die Landschaft nach allen Richtungen offen ist und keine Wegweiser dastehen. Streng nach Vorschrift der herrschenden Gesetze lässt sich ja auch ohne Einfall etwas produzieren, was dann immerhin seine Existenzberechtigung daraus bezieht, dass ja eben nach Vorschrift gearbeitet wurde.
Also, sagen wir’s salopp, wenn einem nichts einfällt, ist man ohne Schablonen verloren. Ein Blick zurück lehrt, dass vor genau 100 Jahren die Komponisten der damaligen Avantgarde vor demselben Problem standen. 1923 schrieb eigentlich nur der originelle Edgar Varèse Musik, die überhaupt nicht an althergebrachten oder ringsum in der aktuellen Szene vorgefundenen Mustern orientiert war, sondern im wahrsten Sinne des Wortes „unerhört“war: „Hyperprism“hieß das Stück für neun Bläser und sieben Schlagwerker. Der Komponist versuchte, Klänge einmal zu behandeln wie Licht, das durch Prismen strahlt.
Entsprechend verwirrend und sozusagen ewig modern klingt das Stück bis heute. Wenn es klingt. Varèses Musik wird kaum aufgeführt. Rings um ihn herrschte Irritation. Igor Strawinsky hatte in seiner Not, sich und seine Klangwelt von Werk zu Werk neu erfinden zu müssen, 1920 schon damit begonnen, barocke Concerti mit ein wenig Dissonanzen zu pfeffern und, originell instrumentiert, als Ballettmusik zu „Pulcinella“herauszubringen. Schönberg hatte gerade seine Zwölftonmethode als gigantisches Klettergerüst in den „atonalen“Raum gestellt, weil dort die altgewohnten harmonischen Gesetze, also sozusagen die Dur-Moll-Schwerkraft, nicht mehr wirkten.
Hanns Eisler verließ 1923 gerade Schönbergs Kompositionsklasse und tappte in seiner Klaviersonate noch im tonartfreien Dunkeln, wo er Schönbergs zwölfsprossige Hilfsleiter offenbar nicht finden konnte.
Da wollten ohnehin nicht alle hinaufklettern. Der Franzose Darius Milhaud hörte sich in Harlem um und schuf „La creation du monde“, indem er Jazz-Elemente mit klassischen Kompositionsstrukturen amalgamierte. Der Jazz spukt auch in der originellen Violinsonate, an der Maurice Ravel gerade zu arbeiten begann.
Die beiden großen Ungarn suchten lieber Halt bei der echten Volksmusik: Zoltán Kodálys „Psalmus hungaricus“verknüpft magyarische Weisen mit Rückgriffen auf die ältesten mitteleuropäischen Gesänge, Béla Bartók feierte den 50. Jahrestags der Vereinigung von Buda und Pest mit einer „Tanzsuite“, deren Melodien und Rhythmen sich an folkloristischen Klängen aus Südosteuropa und Vorderasien orientierten.
Und Arthur Honegger veröffentlichte 1923 seine pittoreske akustische Nacherzählung einer Fahrt mit einer riesigen Dampflokomotive, „Pacific 231“. Später war es ihm peinlich und er versuchte, eine abstraktere Beschreibung dieses Stücks unter die Leute zu bringen. Aber das nützt nichts, natürlich hört man es zischen und ächzen und quietschen, ehe der Zug im Höllentempo durchs Land rast. Ins Ungewisse.
Darum ist mir das gerade eingefallen: Bis heute müssen sich Komponisten immer einen neuen Schmäh einfallen lassen, wenn sie uns bei Laune halten wollen. Symphonie Nr. X gibt’s nicht mehr. Wie lautet der nächste Titel, der einer Novität Aufmerksamkeit garantiert?