Nürnberger Prozesse: Als Dos Passos auf Erich Kästner traf
Viele berühmte Autoren trafen 1946 im Pressecamp im Schloss der Faber-Castell aufeinander. „Das Schloss der Schriftsteller“lässt uns staunend teilhaben an ihrem Treiben.
Eines Morgens verwechselte ich halb verschlafen meine Zahnbürste mit der meines Nebenmannes, der sagt: ,Verzeihung, diese Bürste trägt meine Initialen. Mein Name ist Steinbeck, John Steinbeck.‘ Im Hintergrund planscht John dos Passos vergnügt in der Badewanne, und ein paar Schritte von uns beklagt sich Ernest Hemingway, mit nichts als einem Frottiertuch um den Bauch, über die lokalen Weinsorten.“So berichtet der amerikanische Reporter George W. Herald seinen Lesern aus dem Pressecamp des Nürnberger Prozesses. Sehr schön – und sehr erfunden. Viel übertrieben und hinzugedichtet wurde damals, gerade unter den extrem miteinander konkurrierenden amerikanischen Journalisten. In Wirklichkeit waren weder Hemingway noch Steinbeck als Berichterstatter bei den Nürnberger Prozessen.
Aber dafür trafen etliche andere prominente Autoren aus aller Welt zwischen 1945 und 1949 im Schloss der Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell in Stein etwas außerhalb von Nürnberg ein. Es war von den Bomben verschont geblieben und groß genug, um Journalisten aus aller Welt aufzunehmen, gekommen, um über die Nürnberger Prozesse zu berichten. Und die Besucherliste, schreibt der deutsche Romanist und Germanist Uwe Neumahr, „liest sich wie die Crème de la Crème der damaligen Presseund Literaturszene“. Tatsächlich ist es wohl historisch einzigartig, wie hier „Weltliteratur auf Weltgeschichte traf“.
Von China bis Paraguay
Da war, anders als Steinbeck und Hemingway, tatsächlich John dos Passos. Augusto Roa Bastos wohnte ebenfalls im FaberSchloss – er gilt heute als berühmtester Autor Paraguays. Die britische Autorin Rebecca West oder die für ihre Kriegsreportagen bis heute legendäre Amerikanerin Martha Gellhorn trafen dort aufeinander. Da war auch der Franzose Joseph Kessel, bekannt für seine Abenteuerromane und die Romanvorlage für den Film „Die Spaziergängerin von SansSouci“mit Romy Schneider. Oder, als einziger Chinese, Xiao Qian, der später Vorsitzender der chinesischen Schriftstellervereinigung wurde. Und natürlich deutsche Autoren, teilweise aus dem Exil hergekommen: Thomas Manns Tochter Erika Mann und Erich Kästner, der spätere Büchner-Preisträger Wolfgang Hildesheimer oder der spätere Zukunftsforscher Robert Jungk.
Was für ein historischer Stoff! Erstaunlich, dass es so lang gedauert hat, bis ihm ein eigenes Buch gewidmet wurde. Uwe Neumahr erzählt nun in „Das Schloss der Schriftsteller“(Verlag C.H. Beck) von diesem Biotop, in dem politische, kulinarische, modische und alle möglichen anderen Gegensätze aufeinandertrafen, sowie von den literarischen Prominenten darin. Das ist angefüllt von aufschlussreichen historischen Details und Anekdoten, bei weitem nicht nur literarischen. Vielmehr formiert Neumahr um diesen Autoren-Gipfeltreff herum ein großes historisches Panorama.
„Fühlte mich nie trauriger und weiser“
John dos Passos, einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Moderne in der Literatur, war damals schon berühmt. „Nie in meinem Leben habe ich mich trauriger und weiser gefühlt als nach dieser Europareise“, schrieb er darüber. In jungen Jahren Kommunist, war er ähnlich wie George Orwell unter dem Eindruck des sowjetischen Terrors im Spanischen Bürgerkrieg zum Gegner des Kommunismus geworden.
Die Eindrücke aus Deutschland drückten ihn noch weiter nieder. „Vielleicht haben die Russen recht und der Mensch ist böse und lässt sich nur mit Terror regieren“, schrieb er damals an seinen Schriftstellerfreund Upton Sinclair, „aber ich weigere mich immer noch zu glauben, dass all das, wofür der Westen steht, in Schutt und Asche enden muss.“
Aus London kam etwa Erika Mann. Offiziell war sie Angehörige des US-Militärs. Dass dort homosexuelle Beziehungen verboten waren, hinderte sie nicht daran, im Presselager mit ihrer damaligen Lebensgefährtin Betty Knox zusammenzuwohnen. Auch Autorin und Frauenrechtlerin Rebecca West, die mit H.G. Wells ein Kind hatte, berichtete aus Nürnberg. „Das Symbol von Nürnberg war ein Gähnen“, schrieb sie. Besser wurde es, als sich zwischen ihr und dem amerikanischen Richter Francis Biddle eine Affäre entspann. West traf in Nürnberg auch die bis heute berühmte Kriegsreporterin Martha Gellhorn, Ex-Frau von Ernest Hemingway.
Es gab aber auch jene, die lange als Gäste galten, obwohl sie nie dort gewesen waren. Zu ihnen gehörte der Autor von „Berlin Alexanderplatz“, Alfred Döblin. In pädagogischem Eifer verfasste er unter Pseudonym eine Schrift „Der Nürnberger Lehrprozess“, in der er vorgab, beim Prozess dabei gewesen zu sein. Er wurde auch später in vielen Quellen irrtümlich als Teilnehmer des Pressecamps genannt. Fake News produzierten auch dort anwesende Autoren: Die französische Stalinistin und Prix-Goncourt-Preisträgerin Elsa Triolet zum Beispiel erzählte ihren kommunistischen Lesern von einer Zeugenaussage, die es nie gegeben hatte.