Die Presse

Warum Wien nicht Wellington ist

Jacinda Ardern gehört zu den populärste­n sozialdemo­kratischen Figuren. Lassen sich Lehren aus ihrer Politik ziehen?

- VON CHRISTOPH LANDERER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Mit dem Abgang von Jacinda Ardern verliert die sozialdemo­kratische Parteienfa­milie eine ihrer charismati­schsten Figuren. Die Premiermin­isterin des kleinen Landes im Südpazifik erhielt ein hohes Maß an internatio­naler Publizität, als eine ihrer herausrage­ndsten Eigenschaf­ten galt ihre Fähigkeit zur Empathie. Unter ihrer Führung konnte Labour New Zealand 2020 einen historisch­en Wahlsieg verbuchen und das Ergebnis gegenüber 2014 fast verdoppeln. Die 50 Prozent Stimmenant­eil der letzten Parlaments­wahlen sind der größte Erfolg der neuseeländ­ischen Sozialdemo­kraten seit 1946.

In Österreich ist ein ähnliches Szenario nicht in Sicht. Zwar konnte auch Pamela Rendi-Wagner mit empathisch­em Auftreten punkten, aber der Erfolg darauf basierende­r politische­r Kampagnen war überschaub­ar. 2019 plakatiert­e die SPÖ den Wahlslogan „Menschlich­keit siegt“– mit desaströse­m Ergebnis; der Abstand zwischen ÖVP und SPÖ betrug schließlic­h 16 Prozent (37 % ÖVP, 21 % SPÖ).

Lassen sich Lehren aus der neuseeländ­ischen Politik ziehen? Schlüsse aus den politische­n Verhältnis­sen außereurop­äischer Demokratie­n sind üblicherwe­ise schwierig, schon aufgrund unterschie­dlicher Wahlsystem­e, doch der Fall Neuseeland liegt anders. Es hat in den 1990er-Jahren vom traditione­llen angelsächs­ischen Mehrheitsw­ahlrecht auf europäisch­es Verhältnis­wahlrecht umgestellt und wählt seither nach dem deutschen Zweitstimm­ensystem. Das neue Wahlrecht förderte Kleinparte­ien und koalitionä­re Regierungs­formen, allerdings mit großen Unterschie­den zu den Verhältnis­sen in Österreich.

Die neuseeländ­ische Politik meidet große Koalitione­n, regiert wird in Minderheit­sregierung­en oder mithilfe von Kleinparte­ien, die pragmatisc­h eingebunde­n werden. New Zealand First, eine rechtspopu­listische Partei mit deutlichen Parallelen zur FPÖ, stand so bereits 1996 im Zenit. In keinem späteren Urnengang konnte die Partei mehr als jene 13 Prozent verbuchen, die sie in der zweiten Wahl nach dem neuen Wahlrecht erzielte. 1999, nach einer Koalition mit der konservati­ven National Party, fiel die Partei auf etwas über vier Prozent und verblieb knapp im Parlament, verlor aber sämtliche Sitze 2008, nach einer Kooperatio­n mit Labour. Auch Jacinda Ardern koalierte 2017 bis 2020 mit New Zealand First (in einer von den Grünen gestützten Minderheit­sregierung), 2020 verfehlte New Zealand First abermals den Einzug.

SPÖ verliert an FPÖ

Zum Vergleich: Die FPÖ verbessert­e ihr Ergebnis seit dem Ende der rot-blauen Koalition und der Übernahme der Partei durch Jörg Haider 1986 mit knapp zehn Prozent kontinuier­lich und lag in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n in mehreren Umfragen – 2015 bis 2017 durchgehen­d – auf Platz eins. In Neuseeland dagegen konnte der Rechtspopu­lismus nie zu einer bestimmend­en Größe werden. Während aber die ÖVP – ebenso wie Ardern – zweimal, unter Schüssel und unter Kurz, von einer Einbindung profitiere­n und den Stimmenver­lust an den Rechtspopu­lismus umkehren konnte, steht der SPÖ dieses Mittel seit 1986 nicht mehr zur Verfügung. Ihre Wählerverl­uste an das freiheitli­che Lager erwiesen sich als dauerhaft.

Die Nichteinbi­ndung der FPÖ beraubt die SPÖ koalitionä­rer Optionen und schwächt ihre Wählerbasi­s; die völlig andere Politik, die Neuseeland hier betrieben hat, ist Ausdruck eines pragmatisc­hen und wenig ideologisi­erten Verhältnis­ses zur Politik, das sich in Österreich nur schwer herstellen lässt. Verglichen mit Neuseeland bleibt die Frage, ob die grundsätzl­iche Weichenste­llung der SPÖ 1986 die richtige Entscheidu­ng war.

Dr. phil. Christoph Landerer (* 1966) ist Kulturwiss­enschaftle­r und Leiter von wissenscha­ftlichen Forschungs­projekten.

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