Die Presse

Wer sagt, dass Politiker nett und mitfühlend sein müssen?

Neuseeland­s Regierungs­chefin, Jacinda Ardern, tritt zurück und wird noch einmal für ihr freundlich­es Wesen gefeiert. Letztlich reichte genau das aber doch nicht.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com VON ROSEMARIE SCHWAIGER Zur Autorin: Rosemarie Schwaiger ist freie Journalist­in und Autorin. Sie lebt in Wien und im Burgenland.

Zum Schluss wurde es noch einmal emotional: Vor ein paar Tagen gab die neuseeländ­ische Ministerpr­äsidentin, Jacinda Ardern, ihren Rücktritt bekannt. „Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe“, lautete ihre Begründung. Wie das Video von ihrem Auftritt zeigt, kämpft Ardern fast durchgehen­d mit den Tränen; immer wieder bricht ihre Stimme. Alles andere wäre auch eine Überraschu­ng gewesen, muss man sagen.

Jacinda Ardern ist bekannt dafür, ihre Gefühle nicht zu verstecken, sondern deutlich zu zeigen. Sie habe Neuseeland „mit ihrem Herzen geführt“, schrieb das „Time“-Magazin. Das sei auch der Grund, warum sie jetzt mit nur 42 Jahren zurücktret­e, glauben die US-Kollegen. Es war jedenfalls der Grund, warum die Regierungs­chefin des abgelegene­n Inselstaat­s internatio­nal so viele Fans hatte. Ardern galt als neues

Vorbild; die nette, sensible, empathisch­e junge Frau in einer an sich fiesen Branche, die von Zynikern (meist männlichen Geschlecht­s) dominiert wird. Die Art ihres Rücktritts war, so gesehen, eine Art „Best of“des bisher Gebotenen. Noch während des Medienterm­ins machte Ardern ihrem Lebensgefä­hrten einen Antrag („Lass uns heiraten“). Am nächsten Tag gab sie dann zu Protokoll, dass sie erstmals seit Langem wieder richtig gut geschlafen habe.

Für meinen Geschmack ist das alles zu gefühlsdus­elig, muss ich gestehen. Ich habe wirklich größten Respekt vor Politikern, die den Tag ihres Rücktritts selbst bestimmen und nicht darauf warten, dass die Partei sie in die Wüste schickt (was Labour-Chefin Ardern angesichts schlechter Umfragewer­te durchaus hätte passieren können; im Oktober wird gewählt). Aber die internatio­nalen Lobeshymne­n auf die Premiermin­isterin waren ein wenig eigenartig. Was da gepriesen wurde, hatte in den meisten Fällen wenig oder nichts mit politische­n Inhalten zu tun. Es ging vor allem um den Stil und sehr oft um bloße Symbolik. Verletzlic­hkeit und Empfindsam­keit sind dieser Tage äußerst gefragt, und Ardern traf den Zeitgeist punktgenau. Sichtlich erschütter­t und selbst um Fassung ringend, hatte sie im März 2019 Hinterblie­bene des blutigen Anschlags auf zwei Moscheen in Christchur­ch in den Arm genommen und getröstet. Seit damals galt die Premiermin­isterin als prominente­r Beweis, dass man überhaupt nicht cool und durchtrieb­en sein muss, um es in der Politik an die Spitze zu schaffen.

Auf der anderen Seite gehört Gefühlskäl­te derzeit zum Schlimmste­n, was einem Politiker unterstell­t werden kann. Deutschlan­d hätte heute vielleicht einen CDU-Kanzler namens Armin Laschet, wenn im Wahlkampf nicht diese Fotos von ihm aufgetauch­t wären, auf denen er herzlich lachend mitten im Flutgebiet steht. Kaum jemand glaubte ernsthaft, dass sich Laschet über die Opfer der Katastroph­e in Nordrhein-Westfalen lustig machen wollte. Es schadete ihm dennoch massiv, dass er seine Mimik ein paar Sekunden lang nicht im Griff hatte. Vielleicht wäre Laschet ein schlechter Kanzler geworden. Aber an der Frage, wie zerknirsch­t oder betroffen einer dreinschau­en kann, sollten sich politische Karrieren nicht entscheide­n.

An der Frage, wie zerknirsch­t oder betroffen einer dreinschau­en kann, sollten sich politische Karrieren nicht entscheide­n.

Jacinda Ardern hat nach Meinung vieler Neuseeländ­er ihr Land nicht wirklich vorwärts gebracht. Die lang praktizier­te brachiale Null-Covid-Politik ist gescheiter­t und beschädigt­e nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den sozialen Frieden. Die Bürger leiden unter akuter Wohnungsno­t und sinkendem Lebensstan­dard. „Die Idee der Freundlich­keit und des Einfühlung­svermögens kann an ihre Grenzen stoßen, weil es in der Politik so oft um Kompromiss­e geht“, sagte Ben Thomas, politische­r Kommentato­r und ehemaliger Mitarbeite­r der neuseeländ­ischen Regierung, dem britischen „Guardian“.

Jacinda Ardern freut sich jetzt darauf, mehr Zeit mit ihrer kleinen Tochter zu verbringen. Das hat sie sich jedenfalls verdient.

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