Wer sagt, dass Politiker nett und mitfühlend sein müssen?
Neuseelands Regierungschefin, Jacinda Ardern, tritt zurück und wird noch einmal für ihr freundliches Wesen gefeiert. Letztlich reichte genau das aber doch nicht.
Zum Schluss wurde es noch einmal emotional: Vor ein paar Tagen gab die neuseeländische Ministerpräsidentin, Jacinda Ardern, ihren Rücktritt bekannt. „Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe“, lautete ihre Begründung. Wie das Video von ihrem Auftritt zeigt, kämpft Ardern fast durchgehend mit den Tränen; immer wieder bricht ihre Stimme. Alles andere wäre auch eine Überraschung gewesen, muss man sagen.
Jacinda Ardern ist bekannt dafür, ihre Gefühle nicht zu verstecken, sondern deutlich zu zeigen. Sie habe Neuseeland „mit ihrem Herzen geführt“, schrieb das „Time“-Magazin. Das sei auch der Grund, warum sie jetzt mit nur 42 Jahren zurücktrete, glauben die US-Kollegen. Es war jedenfalls der Grund, warum die Regierungschefin des abgelegenen Inselstaats international so viele Fans hatte. Ardern galt als neues
Vorbild; die nette, sensible, empathische junge Frau in einer an sich fiesen Branche, die von Zynikern (meist männlichen Geschlechts) dominiert wird. Die Art ihres Rücktritts war, so gesehen, eine Art „Best of“des bisher Gebotenen. Noch während des Medientermins machte Ardern ihrem Lebensgefährten einen Antrag („Lass uns heiraten“). Am nächsten Tag gab sie dann zu Protokoll, dass sie erstmals seit Langem wieder richtig gut geschlafen habe.
Für meinen Geschmack ist das alles zu gefühlsduselig, muss ich gestehen. Ich habe wirklich größten Respekt vor Politikern, die den Tag ihres Rücktritts selbst bestimmen und nicht darauf warten, dass die Partei sie in die Wüste schickt (was Labour-Chefin Ardern angesichts schlechter Umfragewerte durchaus hätte passieren können; im Oktober wird gewählt). Aber die internationalen Lobeshymnen auf die Premierministerin waren ein wenig eigenartig. Was da gepriesen wurde, hatte in den meisten Fällen wenig oder nichts mit politischen Inhalten zu tun. Es ging vor allem um den Stil und sehr oft um bloße Symbolik. Verletzlichkeit und Empfindsamkeit sind dieser Tage äußerst gefragt, und Ardern traf den Zeitgeist punktgenau. Sichtlich erschüttert und selbst um Fassung ringend, hatte sie im März 2019 Hinterbliebene des blutigen Anschlags auf zwei Moscheen in Christchurch in den Arm genommen und getröstet. Seit damals galt die Premierministerin als prominenter Beweis, dass man überhaupt nicht cool und durchtrieben sein muss, um es in der Politik an die Spitze zu schaffen.
Auf der anderen Seite gehört Gefühlskälte derzeit zum Schlimmsten, was einem Politiker unterstellt werden kann. Deutschland hätte heute vielleicht einen CDU-Kanzler namens Armin Laschet, wenn im Wahlkampf nicht diese Fotos von ihm aufgetaucht wären, auf denen er herzlich lachend mitten im Flutgebiet steht. Kaum jemand glaubte ernsthaft, dass sich Laschet über die Opfer der Katastrophe in Nordrhein-Westfalen lustig machen wollte. Es schadete ihm dennoch massiv, dass er seine Mimik ein paar Sekunden lang nicht im Griff hatte. Vielleicht wäre Laschet ein schlechter Kanzler geworden. Aber an der Frage, wie zerknirscht oder betroffen einer dreinschauen kann, sollten sich politische Karrieren nicht entscheiden.
An der Frage, wie zerknirscht oder betroffen einer dreinschauen kann, sollten sich politische Karrieren nicht entscheiden.
Jacinda Ardern hat nach Meinung vieler Neuseeländer ihr Land nicht wirklich vorwärts gebracht. Die lang praktizierte brachiale Null-Covid-Politik ist gescheitert und beschädigte nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den sozialen Frieden. Die Bürger leiden unter akuter Wohnungsnot und sinkendem Lebensstandard. „Die Idee der Freundlichkeit und des Einfühlungsvermögens kann an ihre Grenzen stoßen, weil es in der Politik so oft um Kompromisse geht“, sagte Ben Thomas, politischer Kommentator und ehemaliger Mitarbeiter der neuseeländischen Regierung, dem britischen „Guardian“.
Jacinda Ardern freut sich jetzt darauf, mehr Zeit mit ihrer kleinen Tochter zu verbringen. Das hat sie sich jedenfalls verdient.