Die Presse

So pfeift Ungarns Regierung auf die Lehrenden

Für die Regierung Orb´an sind Pädagogen die „Tagelöhner der Nation“. Dabei sollte das Land begreifen: Ohne sie geht es nicht.

- VON LASZLO´ ´ MERÖ´

Lehrerstre­iks sind in Ungarn zurzeit an der Tagesordnu­ng, und als dies gesetzlich verboten wurde, folgte der zivile Ungehorsam. Die Regierung entließ die Wortführer, landesweit wurden geschätzt 10.000 Lehrende suspendier­t. Daraufhin schlossen sich ihnen auch die Studenten an, sie bildeten kilometerl­ange Ketten in Budapest und anderen Städten. Bis zu 70.000 Menschen waren bei den Protesten auf der Straße. Die Orbán-Regierung reagierte zynisch: Irgendwann werden sie damit aufhören.

Im Herbst 2022 habe ich einen Vortrag vor Mathematik­lehrern gehalten. Da habe ich ihnen eine Frage gestellt, die ich auch schon verschiede­nen Junguntern­ehmern gestellt habe: „Stellen Sie sich vor, Sie könnten anhand Ihrer Fähigkeite­n im Badminton Weltmeiste­r und Olympiasie­ger werden oder sich als Nummer elf in der Weltrangli­ste im

Tennis platzieren.“(Mit den ersten zehn könnten sie nicht mithalten, denn das sind Ausnahmeta­lente.) Der Welt- und Olympiasie­ger im Badminton verdient im Jahr inklusive Werbung rund 700.000 Euro, während die Nummer elf der Weltrangli­ste im Tennis um die 20 Millionen erhält. Noch vor Beginn der Abstimmung sagte ich immer: „Wenn jemandem mehr an einem ruhigen Leben als am Geld liegt, sollte auch er eher Tennis spielen.“

Danach stellte ich die Frage: Wer wäre lieber Olympiasie­ger und Weltmeiste­r und würde 700.000 Euro im Jahr verdienen und wer lieber Elfter der Welt mit zwanzig Millionen?

Badminton oder Tennis?

Nach den bisherigen Erfahrunge­n wählen Psychologi­estudenten die eine oder andere etwa zu gleichen Teilen. Ich habe drei Jahrgänge abstimmen lassen, sie wählten einmal dies, einmal das – mit einer Abweichung von nicht mehr als drei bis vier Prozent. Dagegen entschiede­n sich etwa zwei Drittel der Ingenieuru­nd Wirtschaft­sstudenten (ich habe Hunderte befragt) für Tennis und ein Drittel für Badminton. Auch an der Sporthochs­chule stimmten einige Hunderte Studierend­e ab, und dabei bekam Badminton eine knappe Zweidritte­lmehrheit. Außerdem habe ich diese Frage in meinen Vorträgen vor Junguntern­ehmern gestellt, und die Antwort war auch hier ungefähr 50:50.

Der Stimmenant­eil zu diesem Thema sagt viel über die Eigenschaf­ten einer Gruppe und ihre Beziehung zur Welt aus. Egal, wem ich diese Frage bisher gestellt hatte, die Quote lag überall bei 33 bis 66 Prozent, einmal so, einmal so, einmal in der Mitte. Bei Mathematik­lehrern war das aber anders.

In dieser Frage können nicht nur die Meinungen einzelner Menschen auseinande­rgehen, sondern sich auch die eines Menschen im Lauf seines Lebens ändern.

Mit 20 hätte ich zum Beispiel Badminton gewählt, jetzt eher Tennis. Nicht, weil ich so materialis­tisch geworden bin, sondern nur, weil ich gelernt habe, das Geld zu schätzen, weil ich jetzt weiß, wofür es gut ist. Geld kann Wertvolles voranbring­en – und das ist mir heute wichtiger als früher. Interessan­t an dieser Umfrage ist auch, dass man hier meist Verständni­s für den Standpunkt des jeweils anderen hat. Nirgends sind sie sich gegenseiti­g an die Gurgel gegangen. Einmal kam eine Frau nach dem Vortrag zu mir und sagte, jetzt kapiere sie, dass andere anders denken, und das sei für sie völlig in Ordnung.

So war es schon immer Brauch

Nun zum Votum der Mathematik­lehrer: Von mehr als 200 Befragten stimmten 160 für Badminton. Ich traute meinen Augen nicht, als ich die hochgehalt­enen Hände sah, nachdem ich bis dahin mehr als 2000 Menschen zu diesem Thema befragt hatte, und nirgendwo war das Ergebnis auch nur annähernd so eindeutig. Das bezieht sich zwar nur auf Mathematik­lehrer, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir ein ähnliches Resultat auch bei anderen Lehrern bekämen.

Ich konnte mich nicht anders verhalten und vermutete gleich nach dem Vortrag, dass sie vielleicht gerade deshalb noch immer unterricht­en würden – trotz der Behandlung durch den Staat. Sie waren nicht beleidigt, sie lachten.

Was kann man machen, wenn eine Regierung die „Tagelöhner der Nation“wirklich so behandelt, wie es schon immer in Ungarn Brauch war: Die aufmüpfigs­ten rausschmei­ßen und den Rest auf unbestimmt­e Zeit hinhalten? Heute heißt es: „Sie werden Geld bekommen, wenn aus Brüssel Geld kommt“– kein Wort von einer Regelung der Freizeit, höchstens ein bisschen Geld, das eigentlich fremdes Geld ist.

Was kann man tun, wenn die Lehrenden sehen, dass die Regierung ihre grundlegen­dsten Forderunge­n völlig ignoriert und sich überhaupt nicht darum kümmert, wie es ihnen geht? Ich sehe keine Chance, mit der Regierung Orbán zu einem fairen Deal zu kommen. Demonstrat­ionen, Streiks und offene Briefe an Orbán sind mir sehr sympathisc­h, aber der Zynismus der Machthaber wird sich am Ende leider durchsetze­n, die Lehrer werden das Land nicht in Schutt und Asche legen – so sind sie einfach nicht. Solch dreckige Arbeit soll jemand anders erledigen.

Ich weiß nicht, wie Soldaten sich entscheide­n würden, aber in dieser Hinsicht sind sie den Lehrern sehr ähnlich. Beide Berufe erfordern nämlich eine strenge Selbstdisz­iplin.

Wenn ich ein Lehrer in den Vierzigern wäre, und es liebte zu unterricht­en, es wäre sozusagen der Sinn meines Lebens, dann könnte ich jetzt nichts anderes tun, als das Feld zu räumen. Innerlich würde ich hoffen, dass es nur für ein Jahr wäre, aber keinesfall­s kürzer. Eine andere Chance sehe ich nicht, meine Berufung unter normalen Bedingunge­n auszuüben. Auch wenn ich mich aufrichtig für Badminton entscheide, jetzt würde ich ein Jahr Tennis spielen.

Mehr Geld als Pizzabote

Wenn ich ein Jahr lang das Militär ertragen konnte, könnte ich es auch ein Jahr an der Kassa eines Supermarkt­s oder als Pizzabote aushalten. Als Angestellt­er wäre ich nämlich intelligen­t und disziplini­ert genug, um sofort einen Job auf dem Arbeitsmar­kt zu finden, zumal mir bewusst wäre, warum ich es tue. Meine Familie würde keinen Schaden nehmen, weil ich sogar mehr Geld als vorher nach Hause brächte (Lehrende verdienen in Ungarn ca. 365 Euro/Monat, nach zehn bis 15 Jahren Erfahrung bis zu 560 Euro/ Monat). Vielleicht wäre es möglich, schnell eine Ausbildung als Reinigungs­kraft oder Wachmann zu machen, dann könnte ich sogar geheim in einer Schule für mehr Geld, als ich dafür jetzt bekomme, unterricht­en.

Wenn sich Zehntausen­de Pädagogen so verhielten, wäre der Staat in einem Jahr gezwungen, sie unter anständige­n Bedingunge­n wieder einzustell­en, denn mittlerwei­le wäre es jedem klar, dass es ohne sie nicht geht. Solange der Unterricht durch unser Pflichtbew­usstsein und unsere Profession­alität unter den heutigen Bedingunge­n irgendwie dennoch aufrechter­halten wird, kann am Schulsyste­m keine Besserung eintreten.

Vor dem Regimewech­sel war ein Jahr Wehrdienst der Preis, um danach studieren zu können. In der heutigen Situation ist ein Ausscheide­n für ein Jahr der Preis dafür, irgendwann wieder normal unterricht­en zu können.

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