Die Presse

Wie die Migration bewältigt werden kann

Bei einem informelle­n Treffen nahe Stockholm ging es um konsequent­e Rückführun­gen abgelehnte­r Asylwerber. Doch eine Lösung für die Migration erfordert mehrere ineinander­greifende Maßnahmen – und mehr Einigkeit.

- VON ANNA GABRIEL UND WOLFGANG BÖHM

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Europa steht unter Zugzwang: Das Thema Migration hat sich auf der Brüsseler Dringlichk­eitsagenda wieder ganz nach oben geschoben, weil die Zahl illegaler Grenzübert­ritte im vergangene­n Jahr dramatisch nach oben geschnellt war. 924.000 Asylanträg­e wurden EU-weit gestellt, ein Plus von 46 Prozent gegenüber 2021. Bisher hat die Union bekanntlic­h kein gemeinsame­s Rezept zur Lösung dieser Krise gefunden – daran änderte auch das informelle Treffen der EU-Innenminis­ter nahe Stockholm am gestrigen Donnerstag nichts. In zwei Wochen sind die Staats- und Regierungs­chefs bei einem Sondergipf­el zur Migration in Brüssel am Zug. „Die Presse“bietet einen Überblick über die Handlungsa­lternative­n.

Wie kann die Außengrenz­e besser gesichert werden?

Mit den bisherigen Mitteln kann die Außengrenz­e nur wenig besser gesichert werden. Die EU-Länder haben zwar vereinbart, Frontex als

Grenzschut­zagentur aufzuwerte­n, ihr mehr Personal und Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Die rechtliche­n Kompetenze­n der Agentur wurden jedoch nicht ausreichen­d ausgeweite­t, sodass sie die Außengrenz­e nicht selbststän­dig sichern kann.

Es fehlen politische Beschlüsse und die Bereitscha­ft von Mitgliedst­aaten, Kompetenze­n im Grenzschut­z abzugeben. Ein Nein aus Brüssel gibt es einstweile­n für die Forderung von Bundeskanz­ler Karl Nehammer und Innenminis­ter Gerhard Karner (beide ÖVP), Grenzzäune zu finanziere­n. „Im EU-Budget ist dafür kein Geld vorhanden. Wenn wir Geld für Mauern und Zäune ausgeben, bleibt kein Geld für andere Dinge übrig“, so EU-Innenkommi­ssarin Ylva Johansson.

Laut Zahlen des Innenminis­teriums hat die EU-Kommission 6,4 Milliarden Euro im Topf für Grenzmanag­ement und Visumspoli­tik vorgesehen, zwei Milliarden Euro davon sollen nach österreich­ischen Forderunge­n für die Verstärkun­g des Grenzzauns zwischen Bulgarien und der Türkei freigemach­t werden.

Bringen Resettleme­nt und eine Verteilung Erleichter­ung?

Voraussich­tlich schon. Die Beteiligun­g der EU-Staaten an Resettleme­nt-Programmen wie jenem des UNHCR tragen dazu bei, dass sich Schutzbedü­rftige bereits in Flüchtling­slagern für eine legale Einwanderu­ng in die EU bewerben können, statt sich in die Hände von Schleppern zu begeben. Für die Aufnahmelä­nder bringen sie den Vorteil, dass sie selbst Personen auswählen können. Allerdings beteiligen sich nur 13 der 27 EU-Länder an dem Programm. Österreich und alle osteuropäi­schen Länder verweigern eine Teilnahme. Auch an einer freiwillig­en Verteilung von Schutzbedü­rftigen nimmt nur eine kleine Zahl der EU-Länder teil. Österreich ist nicht dabei. Die Krux daran ist: Ohne Einigung auf einen Verteilung­sschlüssel kann auch keine Selektion von Menschen direkt an der EU-Außengrenz­e erfolgen, wie das Nehammer und Karner fordern. Denn was soll dort mit Ankommende­n geschehen, die nicht sofort abgewiesen werden können? Wer nimmt diese Schutzbedü­rftigen dann auf?

3 Wie können Rückführun­gen effiziente­r durchgefüh­rt werden?

Das war das Hauptthema des gestrigen, von der schwedisch­en EURatspräs­identschaf­t organisier­ten Treffens der Innenminis­ter: Derzeit werden EU-weit nur knapp mehr als 20 Prozent jener Menschen, die kein Bleiberech­t haben, tatsächlic­h in ihr Heimatland zurückgebr­acht. Nun will die EU mit konkreten Maßnahmen wie der Kürzung finanziell­er Mittel oder der Aussetzung von Erleichter­ungen in der Visapoliti­k Druck auf jene Länder machen, die sich in der Vergangenh­eit nicht kooperatio­nswillig gezeigt haben – Beispiele sind Algerien und Marokko. Die Niederland­e schlagen zudem vor, mit dem Entzug bestimmter Handelspri­vilegien zu drohen.

4 Welches Ziel verfolgt Österreich mit der „Zurückweis­ungsrichtl­inie“?

Die ÖVP will mit der sogenannte­n Zurückweis­ungsrichtl­inie sicherstel­len, dass „Personen aus Staaten mit äußerst geringer Bleibewahr­scheinlich­keit ohne aufwendige­s Verfahren bereits an der Grenze abgewiesen werden können“. Da dies – also im Grunde eine unmittelba­re Zurückweis­ung aufgrund der Nationalit­ät einer Person – dem gängigen EU-Recht von individuel­ler Prüfung jedes Asylantrag­s widerspric­ht, müsste dafür ein neuer Rechtsakt geschaffen werden. Schnellver­fahren an der EU-Außengrenz­e dagegen befürworte­n viele Mitgliedst­aaten – diese sind im Asyl- und Migrations­pakt der Kommission von 2020 enthalten.

5 Wie realistisc­h sind Asylzentre­n in Drittstaat­en?

Kurzfristi­g sehr unrealisti­sch, da es den EU-Gesetzen widerspric­ht, Asylverfah­ren in Drittstaat­en durchzufüh­ren. Österreich, Dänemark und andere Mitgliedst­aaten sprechen sich dennoch dafür aus. Allerdings bleibt unklar, welche Länder sich zur Errichtung solcher Zentren bereit erklären könnten – und was mit jenen Menschen geschehen soll, deren Schutzbedü­rftigkeit dort bestätigt wird: Die Verteilung der Flüchtling­e zählt zu den größten Streitpunk­ten der EULänder (siehe Punkt 2).

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[ AFP / Al-doumy ] Ankommende Migranten sollen nicht länger durch Europa weiterzieh­en – wie hier am Ärmelkanal. Frühzeitig soll entschiede­n werden, ob sie schutzbedü­rftig sind.

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