Israelis und Palästinenser driften in neuen Krieg
Palästinensische Extremisten starten Raketenattacken, Israels Luftwaffe fliegt Angriffe. Die Situation im Nahen Osten ist so ernst wie schon lang nicht mehr. Die Angst vor einer neuen Intifada wächst.
Tel Aviv. Raketenalarm auf der einen, gezielte Luftangriffe auf der anderen Seite: In der Nacht zum Freitag ist der Nahostkonflikt eskaliert. Nachdem radikale Palästinenser mehrere Raketen in Richtung Israel abgefeuert hatten, attackierte Israels Armee nach eigenen Angaben Ausbildungszentren der radikal-islamistischen Hamas in Gaza. Die Hamas hatte schon zuvor Vergeltung geschworen.
Die Gefechte sind eine Reaktion auf eine Anti-Terror-Operation der israelischen Armee im von Israel besetzten Westjordanland in der Gegend um Jenin am Donnerstag. Bei dem folgenschwersten Militäreinsatz im Westjordanland seit Jahrzehnten waren insgesamt neun Palästinenser getötet und mindestens 20 weitere Menschen verletzt worden.
Extremisten sind gestärkt
Die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah kündigte noch am Donnerstagabend die Sicherheitskooperation mit Israel auf. Ein Krieg mit der Hamas scheint nur eine Frage der Zeit, und doch unterscheidet sich die aktuelle Situation von jener der vergangenen 15 bis 20 Jahre massiv. Auf der einen Seite steht eine israelische Regierung, die getrieben wird von extremen, nicht an einer friedlichen Lösung interessierten Kräften – und die dabei Israels Sicherheit aufs Spiel setzen. Auf der anderen stehen Palästinenser, die politisch zwar nicht geeint sind, aber zunehmend glauben, sich mit Waffen gegen Israel wehren zu können – und zu dürfen.
Dass die Lage so ernst ist wie selten in den vergangenen 20 Jahren, zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) zum Stimmungsbild unter Israelis und Palästinensern: Demnach befindet sich die Zustimmung zur Zweistaatenlösung unter Palästinensern wie auch jüdischen Israelis auf einem historischen Tiefpunkt. Unter den Palästinensern wächst dagegen die Zustimmung für den Kampf gegen die israelische Besatzung, 40 Prozent der Befragten unterstützen den bewaffneten, 16 Prozent den nicht bewaffneten Widerstand. Insgesamt glauben 61 Prozent, dass eine neue Intifada bevorsteht.
Unter jüdischen Israelis sieht es nicht anders aus: Hier fürchten 65 Prozent einen neuen palästinensischen Aufstand. 26 Prozent unterstützen einen entscheidenden Militärschlag gegen die Palästinenser – und damit sieben Prozent mehr als bei der letzten Umfrage vor zwei Jahren.
„Die Unterstützung für nicht demokratische, nicht friedliche Lösungen wächst auf beiden Seiten“, sagte Khalil Shikaki, Direktor des PSR, bei der Präsentation der Studie in Ostjerusalem. Die Stimmung sei vor allem mit den einseitigen Narrativen zu erklären, die sowohl von der palästinensischen Führung als auch von der israelischen Regierung in den vergangenen Jahrzehnten verbreitet wurden. Diese Erzählungen hätten auf beiden Seiten den Eindruck verstärkt, dass jeweils nur die eigene Gruppe Anspruch auf das Land habe, um das die Konfliktparteien seit mehr als 75 Jahren kämpfen.
Und obwohl es etwa in Israel seit dem Bau des Sicherheitswalls als Folge der zweiten Intifada deutlich sicherer geworden sei, fühlten sich die Israelis nicht sicherer. Gleichzeitig habe sich unter den Palästinensern das Gefühl verstärkt, alleiniges Opfer des Konflikts zu sein – weshalb sie sich zum Widerstand berechtigt sehen. 90 Prozent stimmten demnach der Aussage zu, dass Palästinenser das moralische Recht besäßen, alles zu tun, um ihr Überleben zu sichern.
Pessimistische Prognosen
So pessimistisch die Ergebnisse der Umfrage sind, so pessimistisch sind die Prognosen der an der Studie beteiligten Forscher. „Solang die Führung auf beiden Seiten nicht mit ihren Narrativen bricht, werden wir vor allem unter jungen Leuten eine steigende Radikalisierung feststellen“, sagte etwa die Meinungsforscherin und Politikanalystin Dahlia Scheindlin. „Von der neuen israelischen Regierung ist allerdings genau das Gegenteil zu erwarten.“Ähnliches gilt im Übrigen für die Hamas.
Für Anfang kommender Woche hat sich US-Außenminister Antony Blinken in der Region angekündigt. Auf seinem Programm stehen Besuche in Jerusalem, in Ramallah und Kairo, wo er für Mäßigung eintreten will – ähnlich wie jüngst bei der Überraschungsvisite Benjamin Netanjahus in Amman bei Jordaniens König Abdullah.