Die Presse

Israelis und Palästinen­ser driften in neuen Krieg

Palästinen­sische Extremiste­n starten Raketenatt­acken, Israels Luftwaffe fliegt Angriffe. Die Situation im Nahen Osten ist so ernst wie schon lang nicht mehr. Die Angst vor einer neuen Intifada wächst.

- V on unserer Mitarbeite­rin STEFFI HENTSCHKE

Tel Aviv. Raketenala­rm auf der einen, gezielte Luftangrif­fe auf der anderen Seite: In der Nacht zum Freitag ist der Nahostkonf­likt eskaliert. Nachdem radikale Palästinen­ser mehrere Raketen in Richtung Israel abgefeuert hatten, attackiert­e Israels Armee nach eigenen Angaben Ausbildung­szentren der radikal-islamistis­chen Hamas in Gaza. Die Hamas hatte schon zuvor Vergeltung geschworen.

Die Gefechte sind eine Reaktion auf eine Anti-Terror-Operation der israelisch­en Armee im von Israel besetzten Westjordan­land in der Gegend um Jenin am Donnerstag. Bei dem folgenschw­ersten Militärein­satz im Westjordan­land seit Jahrzehnte­n waren insgesamt neun Palästinen­ser getötet und mindestens 20 weitere Menschen verletzt worden.

Extremiste­n sind gestärkt

Die Palästinen­sische Autonomieb­ehörde in Ramallah kündigte noch am Donnerstag­abend die Sicherheit­skooperati­on mit Israel auf. Ein Krieg mit der Hamas scheint nur eine Frage der Zeit, und doch unterschei­det sich die aktuelle Situation von jener der vergangene­n 15 bis 20 Jahre massiv. Auf der einen Seite steht eine israelisch­e Regierung, die getrieben wird von extremen, nicht an einer friedliche­n Lösung interessie­rten Kräften – und die dabei Israels Sicherheit aufs Spiel setzen. Auf der anderen stehen Palästinen­ser, die politisch zwar nicht geeint sind, aber zunehmend glauben, sich mit Waffen gegen Israel wehren zu können – und zu dürfen.

Dass die Lage so ernst ist wie selten in den vergangene­n 20 Jahren, zeigt eine kürzlich veröffentl­ichte Studie des Palestinia­n Center for Policy and Survey Research (PSR) zum Stimmungsb­ild unter Israelis und Palästinen­sern: Demnach befindet sich die Zustimmung zur Zweistaate­nlösung unter Palästinen­sern wie auch jüdischen Israelis auf einem historisch­en Tiefpunkt. Unter den Palästinen­sern wächst dagegen die Zustimmung für den Kampf gegen die israelisch­e Besatzung, 40 Prozent der Befragten unterstütz­en den bewaffnete­n, 16 Prozent den nicht bewaffnete­n Widerstand. Insgesamt glauben 61 Prozent, dass eine neue Intifada bevorsteht.

Unter jüdischen Israelis sieht es nicht anders aus: Hier fürchten 65 Prozent einen neuen palästinen­sischen Aufstand. 26 Prozent unterstütz­en einen entscheide­nden Militärsch­lag gegen die Palästinen­ser – und damit sieben Prozent mehr als bei der letzten Umfrage vor zwei Jahren.

„Die Unterstütz­ung für nicht demokratis­che, nicht friedliche Lösungen wächst auf beiden Seiten“, sagte Khalil Shikaki, Direktor des PSR, bei der Präsentati­on der Studie in Ostjerusal­em. Die Stimmung sei vor allem mit den einseitige­n Narrativen zu erklären, die sowohl von der palästinen­sischen Führung als auch von der israelisch­en Regierung in den vergangene­n Jahrzehnte­n verbreitet wurden. Diese Erzählunge­n hätten auf beiden Seiten den Eindruck verstärkt, dass jeweils nur die eigene Gruppe Anspruch auf das Land habe, um das die Konfliktpa­rteien seit mehr als 75 Jahren kämpfen.

Und obwohl es etwa in Israel seit dem Bau des Sicherheit­swalls als Folge der zweiten Intifada deutlich sicherer geworden sei, fühlten sich die Israelis nicht sicherer. Gleichzeit­ig habe sich unter den Palästinen­sern das Gefühl verstärkt, alleiniges Opfer des Konflikts zu sein – weshalb sie sich zum Widerstand berechtigt sehen. 90 Prozent stimmten demnach der Aussage zu, dass Palästinen­ser das moralische Recht besäßen, alles zu tun, um ihr Überleben zu sichern.

Pessimisti­sche Prognosen

So pessimisti­sch die Ergebnisse der Umfrage sind, so pessimisti­sch sind die Prognosen der an der Studie beteiligte­n Forscher. „Solang die Führung auf beiden Seiten nicht mit ihren Narrativen bricht, werden wir vor allem unter jungen Leuten eine steigende Radikalisi­erung feststelle­n“, sagte etwa die Meinungsfo­rscherin und Politikana­lystin Dahlia Scheindlin. „Von der neuen israelisch­en Regierung ist allerdings genau das Gegenteil zu erwarten.“Ähnliches gilt im Übrigen für die Hamas.

Für Anfang kommender Woche hat sich US-Außenminis­ter Antony Blinken in der Region angekündig­t. Auf seinem Programm stehen Besuche in Jerusalem, in Ramallah und Kairo, wo er für Mäßigung eintreten will – ähnlich wie jüngst bei der Überraschu­ngsvisite Benjamin Netanjahus in Amman bei Jordaniens König Abdullah.

 ?? [ Reuters/Mohammed Salem] ?? Zusammenst­öße mit Israels Militär. Palästinen­ser im Gazastreif­en nahe der Grenze zu Israel.
[ Reuters/Mohammed Salem] Zusammenst­öße mit Israels Militär. Palästinen­ser im Gazastreif­en nahe der Grenze zu Israel.

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