Befindet sich Deutschland im Krieg?
Berlin liefert moderne Kampfpanzer, die Außenministerin spricht von einem „Krieg gegen Russland“. Wo die roten Linien liegen, ab denen ein Land zur Konfliktpartei wird.
Es waren ungewöhnliche Worte, die Annalena Baerbock im französischen Straßburg wählte. „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander“, sagte die deutsche Außenministerin am Dienstag in einer Debatte im Europarat. Die Deutschen im Krieg gegen die Russen?
Die staatliche Propaganda des Kreml griff Baerbocks unbedachten Sager schnell auf. Das Auswärtige Amt versuchte, den Satz wieder einzufangen. Die Linie der deutschen Regierung sei seit einem Jahr klar: Berlin sieht sich in der Ukraine nicht als Kriegspartei. Wo dabei im Völkerrecht die Grenze verläuft und warum die Frage danach überhaupt wichtig ist.
1 Was ist im 21. Jahrhundert überhaupt eine Kriegspartei?
Der Begriff „Kriegspartei“gilt Juristen als lang überholt. Er stammt aus dem 19. Jahrhundert, als Staaten noch Depeschen mit gegenseitigen Kriegserklärungen übermittelten. Die Idee des Rechts auf Gewalt eines Staates gegen einen anderen Staat wurde im Jahr 1928 geächtet. Heute gibt es „für den Krieg rechtlich grundsätzlich keine Grundlage mehr“, schreibt Stefan Talmon, Völkerrechtler an der Universität Bonn. Mit zwei Ausnahmen: der Selbstverteidigung und der militärischen Intervention mit Segen des UN-Sicherheitsrates.
Im konkreten Fall heißt das: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist laut Juristen völkerrechtswidrig. Dass die Ukrainer sich mit Gewalt verteidigen, ist wiederum erlaubt. Festgelegt ist in weiterer Folge auch: Wer der Ukraine zu Hilfe eilt, befindet sich auf rechtlich sicherem Boden.
2 Kann Russland die Deutschen wegen ihrer Panzer angreifen?
Nein, zumindest nicht nach dem Völkerrecht. Deutschland – und auch andere Länder – dürfen der Ukraine helfen, sich gegen den Angriff zu verteidigen. Dabei ist es nicht wichtig, ob Deutschland nur Helme liefert oder Kampfpanzer wie nun mit dem Leopard 2. Theoretisch könnte Berlin auch Truppen schicken. Damit würde aus der Selbstverteidigung der Ukrainer eine „kollektive Selbstverteidigung“– und Deutschland wäre klar Konfliktpartei. Weil Russlands Angriff auf die Ukraine von vornherein illegal ist, gäbe das Moskau aber nicht das Recht, nun deutsches Staatsgebiet anzugreifen.
3 Wo verläuft die Linie, ab der ein Land zur Konfliktpartei wird?
Die Linie ist überschritten, sobald ein Land eigene Truppen schickt oder Angriffe mit Raketen oder Flugzeugen vom eigenen Staatsgebiet aus zulässt. Deswegen zählt der Völkerrechtler Ralph Janik von der Wiener Sigmund-Freud-Universität beispielsweise den ukrainischen Nachbarn Belarus als Konfliktpartei aufseiten Moskaus.
Nicht über die Linie treten Länder, die Waffen liefern. Dabei ist es laut einer Expertise des Wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages „rechtlich unerheblich“, ob es sich dabei um Raketen, Gewehre, Kampfpanzer oder sogar Kampfjets handelt.
Zwischen den beiden Linien befindet sich allerdings ein schmaler Graustreifen. „Wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“, schrieb der wissenschaftliche Dienst des Bundestages im März. Dabei beziehen sich die Autoren auf den Völkerrechtler Pierre Thielbörger von der Ruhr-Universität Bochum – der allerdings betont, dass seine Aussage vom konkreten Einzelfall abhängt.
4 Wie weit darf die Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung gehen?
Ziemlich weit. „Die Selbstverteidigung ist nicht auf das eigene Staatsgebiet beschränkt, sondern richtet sich danach, wie intensiv der Angriff ist, dem man ausgesetzt ist“, sagt Völkerrechtler Janik. „Weil der russische Angriff so brutal ist, darf die Ukraine theoretisch sehr weit in russisches Gebiet eindringen. Rechtlich könnte sie sogar in Moskau einmarschieren.“
Warum ist überhaupt wichtig, wer rechtlich eine Konfliktpartei ist?
Die deutsche Regierung hat politisch entschieden, in der Ukraine keinesfalls zur Kriegspartei zu werden. „Den politischen Begriff kann man anhand des Völkerrechts deuten, deswegen spielt das eine Rolle“, sagt Völkerrechtler Janik.
Zwar mag sich Wladimir Putin nicht um internationales Recht kümmern. Den Deutschen selbst dient die legale Eingrenzung allerdings als Richtschnur für das eigene Handeln. Damit schließen sie aus, dass deutsche Bodentruppen in der Ukraine eingesetzt werden oder Kampfjets von deutschem Boden ihre Missionen fliegen.